Autorin: Alice Dominique
Der Wiener Zentralfriedhof ist mehr als nur ein Ort der Trauer: Er ist ein lebendiges Denkmal – ein Refugium der Natur inmitten der Stadt. Auf seinen weitläufigen 2,5 Quadratkilometern erstreckt sich die Welt des zweitgrößten europäischen Friedhofs, in der Vergänglichkeit und Natur harmonisch miteinander verschmelzen. Rund drei Millionen Seelen fanden in diesem monumentalen Friedhofsareal ihre letzte Ruhestätte – unter ihnen auch einige bedeutende Persönlichkeiten Österreichs. Ungefähr 330.000 Grabstätten des Wiener Zentralfriedhofs spiegeln die Geschichte Wiens in all ihrer Pracht und Melancholie wider. Am 1. November 1874 öffnete der Friedhof seine Pforten – bis zum heutigen Tage finden Beisetzungen am Friedhofsareal statt. Um das 150-jährige Bestehen des Wiener Zentralfriedhofs zu zelebrieren, widmet sich dieser Blogbeitrag der Österreichischen Nationalbibliothek der facettenreichen Geschichte dieses außergewöhnlichen Friedhofs.
Die Kapazitäten der fünf Biedermeierfriedhöfe außerhalb des Linienwalls – der St. Marxer Friedhof, der Währinger Friedhof, der Hundsturmer Friedhof, der Schmelzer Friedhof und der Matzleinsdorfer Friedhof – waren Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu ausgelastet. Aufgrund dessen wurde eine Friedhofskommission des Wiener Gemeinderates gebildet, die sich ab 1863 mit der Errichtung eines neuen peripheren, interkonfessionellen Friedhofsareal beschäftigte. Dieses sollte auf Kommunalkosten erbaut und durch die Gemeinde verwaltet werden. 1866 bestimmte der Gemeinderat, per Beschluss, dass der neue Friedhof als großangelegter „Centralfriedhof“ errichtet werden sollte – wie auch am 27. Oktober 1866 in der Wiener Zeitung berichtet wurde. Weitere drei Jahre später einigte sich der Gemeinderat auf den Kauf eines weitläufigen Areals in Kaiserebersdorf und Simmering. Anschließend wurde ein Architekturwettbewerb zur Gestaltung des Friedhofsgelände ausgeschrieben, welchen die Frankfurter Gartenarchitekten Karl Jonas Mylius und Alfred Friedrich Bluntschli zu ihren Gunsten entschieden (u.a. 4.Mai 1871 in der Wiener Zeitung).
Am 14. Oktober wurde u.a. im Neuen Wiener Blatt darüber berichtet, dass der Gemeinderat über die Konfessionslosigkeit des Wiener Zentralfriedhofs per Ratsbeschluss bestimmt hatte. Am 30. Oktober wurde jedoch – aufgrund des Protestes der Katholischen Kirche – der Friedhof katholisch eingeweiht. Dem Bericht vom 31. Oktober 1874 des Neuen Wiener Blatts zufolge führte Eduard Angerer, Domdechant von St. Stephan, die religiöse Einweihung aus.
Nach nur drei Jahren Bauzeit war es dann schließlich am 1. November 1874 soweit: Der Wiener Zentralfriedhof öffnete seine Tore. Die Gemeinde-Zeitung berichtete am 3. November (Abb. 2) über die ersten Begräbnisse am Wiener Zentralfriedhof, die am 1. November 1874 stattgefunden hatten. Die Begräbnisse der Verstorbenen wurden in dieser Berichterstattung in Reihenfolge des Bestattungszeitpunkts in einer recht trockenen Manier aufgezählt. Am Eröffnungstag des Zentralfriedhofs fanden insgesamt dreizehn Begräbnisse statt und vierzehn Personen wurden beigesetzt. Die meisten Personen wurden in einem sparsamen Gemeinschaftsgrab beerdigt. Der Rechnungsrat Anton Seifert erhielt das erste Begräbnis. Jakob Zelzers Begräbnis wurde zwar erst als Elftes ausgeführt, war jedoch die erste Einzel-Bestattung am Wiener Zentralfriedhof. Dem Artikel der Gemeinde-Zeitung zufolge handelte es sich um ein prunkvolles Begräbnis mit sechsspännigem Trauerwagen. Das Grab Jakob Zelzers existiert übrigens noch heute und befindet sich rechts neben dem Verwaltungsgebäude entlang der Friedhofsmauer (Gruppe O, Reihe O, Nr. 1).
Aufgrund der entfernten Lage zur Innenstadt empfand die Wiener Bevölkerung ein starkes Ressentiment gegenüber dem Zentralfriedhof. Um in dieser Problematik beschwichtigend zu agieren und die Erreichbarkeit des Friedhofs zu optimieren, wurde eine Pferdetramway angelegt.
Schon vor der Eröffnung des Wiener Zentralfriedhofs wurde auch die Frage des Leichentransports in den Medien angesprochen - so z.B. am 8. Jänner in einem Bericht des Illustrierten Wiener Extrablatts. Die Durchführung von Leichenkondukten über die Simmeringer Haide führte im Winter 1874 zu enormen Schwierigkeiten und beflügelte den enormen Unmut in der Bevölkerung gegenüber dem neuen Friedhof. In der Ausgabe vom 30. Dezember des Illustrierten Wiener Extrablatts wurde über einen Schneesturm in der Woche zuvor berichtet und dieser mit einer Illustration dargestellt.
Eine kuriose Lösung dieser Angelegenheit des problematischen Leichentransports wurde von dem Architekten Josef Hudetz und dem Bauingenieur Franz von Felbinger 1875 der Gemeinde präsentiert: Eine „pneumatische Post“ sollte à la Rohrpost-Prinzip die Verstorbenen von der Stadtmitte zum Zentralfriedhof per kilometerlangen Tunnel transportieren. Aus Pietätsgründen wurde dieses Projekt – nicht überraschend – jedoch nie umgesetzt.
In der zeitgenössischen Berichterstattung wurde der Wiener Zentralfriedhof auch wegen der Gestaltung und des unvollendeten Friedhofsgeländes kritisiert. Er entsprach zu damaligen Zeiten daher im breiten gesellschaftlichen Konsens nicht der Vorstellung eines ehrwürdigen Ruheortes für Verstorbene. Im Zeitungsartikel vom 2. November 1874 des Neuen Wiener Blatts wurde dem Zentralfriedhof „der Stempel der Unfertigkeit“ zugeschrieben und das Areal als „trauriger Anblick“ in einer „öden Umgebung“ bezeichnet.
Auch wenn das Friedhofsgelände zum Zeitpunkt der Eröffnung offenbar eher trist wirkte und unvollendet war, wurde die Totenhalle des Wiener Zentralfriedhofs mit – für damalige Verhältnisse – modernster Technik ausgestattet. Da im 19. Jahrhundert die Furcht vor dem Scheintod und des lebendig Begraben-Werdens in der Bevölkerung tief verankert war, wurden in der Totenhalle des Wiener Zentralfriedhofs Messingplatten zur Aufbahrung der Leichen eingesetzt, die bei Vitalzeichen mittels elektrischer Sensorik einen Glockenalarm auslösten. Am 5. Oktober berichtete das Illustrirte Wiener Extrablatt über diese neue Aufbahrungshalle des Friedhofs.
1901 wurde die Pferdetramway durch eine elektrische Straßenbahn ersetzt. Seit 1907 trägt diese Linie die Nummer 71 des Wiener Straßenbahnsystems. Der „71er“ ist tief in der Wiener Kultur verankert und wird in Anekdoten und Liedern oft erwähnt. In der Redewendung „den 71er nehmen“ wurde diese Straßenbahnlinie im Wiener Jargon verewigt; dieser ist in Wien ein bekannter Ausdruck, der bedeutet, dass jemand verstorben ist.
Nach der Eröffnung des Wiener Zentralfriedhofs rankte sich über mehrere Jahrzehnte hinweg eine gezeitenlose, mystische Eleganz um das gesamte Friedhofsgelände, wie Efeu sich um einen alten Grabstein rankt. Diese poetische Schönheit und kunstvolle Erhabenheit der Wiener Metropolis der Toten wurde vor allem durch die anmutigen Jugendstil-Bauwerke des Architekten Max Hegele geprägt. Hegele gewann 1903 einen Wettbewerb der Gemeinde Wien für den Ausbau eines ehrerbietigen Friedhofsareals. Bis 1910 wurde der Wiener Zentralfriedhof durch den Jugendstil-Architekten um den Bau des erhabenen Hauptportals des zweiten Tors, die beiden Aufbahrungshallen bei dem Hauptportal und die Kirche zum Heiligen Karl Borromäus erweitert. Die imposante Friedhofskirche wurde an zentraler Position in Nähe des Hauptportals errichtet und erhebt sich mit ihrer monumentalen Kuppel wie ein stiller Wächter über das Friedhofsareal.
Im Jahr 1881 fasste der Wiener Gemeinderat einen bedeutenden Beschluss zur Einrichtung von Ehrengräbern auf dem Wiener Zentralfriedhof. Diese Ehrengräber sind nicht nur Orte des Gedenkens, sondern auch bedeutende kulturelle und historische Denkmäler. Zwei der prominentesten Umbettungen aus den ehemaligen Biedermeierfriedhöfen fanden 1888 statt, als die Überreste von Ludwig van Beethoven und Franz Schubert vom Währinger Friedhof auf den Wiener Zentralfriedhof überführt wurden. Heute existieren rund 950 Gedenkgräber, welche Besucher*innen aus aller Welt anziehen.
In der 1951 erbauten würdevollen Präsidentengruft ruhen ehemalige Staatsoberhäupter der Zweiten Republik. Die Gruft befindet sich direkt vor der Friedhofskirche und wurde ursprünglich nur für den 1950 verstorbenen Bundespräsidenten Dr. Karl Renner errichtet.
Dank des Citizen Science Projekts „Biodiversität am Friedhof“ wurde die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt am Wiener Zentralfriedhof zwischen 2021 und 2023 dokumentiert. Ein weiteres Ziel der Kampagne soll der nachhaltige Schutz der über 170 Tierarten, 79 Pilzarten und rund 200 Pflanzenarten sein (Quelle: Projektbericht des „Biodiversität am Friedhof“-Projekts).
Aufgrund dieses vielfältigen, vitalen Natur-Refugiums repräsentiert der Wiener Zentralfriedhof eine tröstliche Symbiose von Leben und Tod, welche die wehmütige Melancholie der Trauernden erheblich erleichtert und den Aufenthalt am Friedhofsareal weniger beschwerlich gestaltet.
Wenn dieser Blogbeitrag Sie zu Ihrer eigenen Recherche in den historischen digitalisierten Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek inspiriert hat, empfehlen wir, auch die Schreibweise „Centralfriedhof“ als Suchbegriff zu verwenden – mit diesem finden Sie einige Quellen, die Ihnen sonst eventuell entgehen würden.
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Zur Autorin: Alice Dominique, BA ist Mitarbeiterin der Abteilung Kundenservices, Leserberatung und Schulungsmanagement und Vortragende im Center für Informations- und Medienkompetenz der Österreichischen Nationalbibliothek.
August, Christian: 100 Jahre Bestattung Wien - 100 Jahre für die Ewigkeit, 2007.
Barta, Franz Josef: Der Wiener Zentralfriedhof. Ein Friedhof für alle Religionen, 2000.
Projektbericht des „Biodiversität am Friedhof“-Projekts.
Titelbild: ÖNB Digital: Haupteingang Wiener Zentralfriedhof
Abb. 3:ANNO: Illustrirtes Wiener Extrablatt, 30. Dezember 1874, Titelblatt [„Ein Leichenzug im Schnee"]
Abb. 5:ÖNB Digital: Besucherandrang bei der Straßenbahn vor dem 2.Tor, 1. November 1952.
Abb. 6: ÖNB Digital: Friedhofskirche zum heiligen Karl Borromäus [Fotografie, um 1930]
Abb. 7: ÖNB Digital: Die Präsidentengruft am Wiener Zentralfriedhof [Fotografie, Franz Blaha, 1952
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