Andreas Okopenko als literarischer Chronist der Nachkriegszeit

Forschung

11.04.2019
Literatur,
Schwarzweißportrait Okopenko, lächelnder Mann im Anzug sitzt vor Haus
Ein Forschungsprojekt zur digitalen Edition seiner Tagebücher

Autorin: Desiree Hebenstreit

Tagebücher und Archiv

Die » digitale Edition der Tagebücher des österreichischen Schriftstellers Andreas Okopenko (1930–2010) ist seit Dezember 2018 online. Grundlage der Edition ist der Nachlass Okopenkos, den das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in den Jahren 1998 bis 2012 erwarb.


Abb. 1: Andreas Okopenko in den 1960er Jahren © ÖNB / Breicha

Die Tagebücher aus dem Zeitraum 1949–1954 umfassen über 3.000 Seiten und stellen damit nur einen Teil des gesamten Tagebuchbestandes aus dem Nachlass Okopenkos dar. Dieser frühe Zeitraum der Tagebücher ist literaturgeschichtlich jedoch besonders aufschlussreich, da Okopenko zu dieser Zeit erste Kontakte in der literarischen Szene knüpfte und sich mit jungen AutorInnen, Zeitschriften und Institutionen in Wien vernetzte. In seinen Tagebüchern zeigt er sich außerdem als umfassender Chronist seiner selbst – und auch seiner Zeit.

Der Literaturbetrieb der 1950er Jahre und die Forschung

Nicht nur Okopenko ist heute einer breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Nur wenige andere Namen von AutorInnen sind geläufig, die Anfang der 1950er Jahre im österreichischen Literaturbetrieb wichtig waren. Dazu zählen H.C. Artmann, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Welche Fülle an AutorInnen, literarischen Texten und Institutionen jedoch durch Prozesse der Kanonisierung in der Literaturgeschichtsschreibung verloren geht, wird durch die Auseinandersetzung mit Okopenkos Tagebüchern deutlich.

Das Projekt erfüllte zentrale Aufgaben der literaturwissenschaftlichen Forschung: Dazu gehört es, neue Materialien aufzufinden, literaturgeschichtlich aufzuarbeiten und neue Erkenntnisse zu ermöglichen. Hauptziel war die Erarbeitung einer Edition, die editionswissenschaftlichen Standards gerecht wird und gleichzeitig eine inhaltliche Aufarbeitung und Auswertung der Tagebücher mit Methoden der Digital Humanities ermöglicht.

Möglichkeiten der digitalen Edition

Eine digitale Edition ist dafür besonders gut geeignet und berührt auch Fragen der Literaturgeschichtsschreibung im digitalen Zeitalter. Der Literaturwissenschaftler Franco Moretti vertrat schon 2005 einen literaturgeographischen Ansatz[1], bei dem es um eine Visualisierung der Inhalte von Texten geht. 2013 brachte er mit „Distant reading“[2] einen mittlerweile etablierten Begriff in die Fachdiskussion ein, der als quantitative Analysemethode einen neuen Zugang zu Texten ermöglicht.

Mit einer digitalen Edition können solche quantitativen Methoden der Forschung genutzt werden. Grundlage dafür ist eine entsprechende Codierung der im Text enthaltenen Informationen.

Die Codierung der Texte mit der Auszeichnungssprache XML/TEI ermöglicht verschiedene Formen der Visualisierung von Inhalten. Beispiel dafür ist die Erfassung von Orten, die Okopenko in seinen Tagebüchern nennt. Die Darstellungsmöglichkeiten der digitalen Edition gehen über eine herkömmliche Registerfunktion in Printeditionen hinaus. Eine digitale Edition ermöglicht nicht nur ein Blättern zwischen Material und Register, sondern durch die Anreicherung mit Koordinaten auch die Anzeige der Orte auf einer Karte. Die Inhalte können außerdem tiefer erschlossen werden, indem man im Datenmodell z.B. Orte, die Okopenko tatsächlich besuchte, von Orten unterscheidet, auf die er in den Tagebüchern nur verweist.


Abb.2: Screenshot digitale Edition Ortsregister

Ähnliches gilt auch für Institutionen und Personen, die im Tagebuchtext vorkommen und über die Codierung erschlossen sind. Nicht nur der Bewegungsradius des Autors wird dadurch sichtbar, sondern auch das Netzwerk aus literarischen Institutionen und Personen, mit denen Okopenko in seinen jungen Jahren Kontakt hatte. Auf der Grundlage dieser digitalen Daten lässt sich eine Topographie des literarischen Lebens im Umfeld Okopenkos Anfang der 1950er Jahre in Wien erstellen.


Abb.3: Screenshot digitale Edition Institutionen

Über die Codierung sind in den Tagebüchern auch Werke erfasst, wobei damit sowohl literarische Werke als auch Zeitungen, Zeitschriften und Radiosendungen gemeint sind. In der Codierung lässt sich unterscheiden, ob die genannten Werke von Okopenko gelesen, geschrieben oder übersetzt wurden. Darauf aufbauende Visualisierungs- und Analysemöglichkeiten der digitalen Edition gehen auch hier über die Erstellung eines Registers in einer Printedition hinaus. Zum Beispiel wird auf quantitativer Ebene die Vielzahl an literarischen Werken, Medien und Filmen deutlich, die Okopenko rezipierte. T.S. Eliot als einer der wichtigsten internationalen Autoren, die Okopenko in den frühen Jahren beeinflussten, wird beispielsweise in den Tagebüchern fünfundsechzigmal genannt.


Abb.4: Screenshot digitale Edition Institutionen

Die Tagebücher dokumentieren auch zahlreiche literarische Texte, an denen Okopenko als junger Autor arbeitete und deren Entstehungsprozess er teilweise ausführlich reflektierte. Obwohl er viele Originaltexte dieser Zeit wieder vernichtete, werden damit die Anfänge seiner schriftstellerischen Arbeit besser deutlich.

Neue inhaltliche Erkenntnisse

Die Tagebücher Okopenkos sind reich an zeitgeschichtlichen Themen und enthalten Bezüge zur Literaturgeschichte, Alltagsgeschichte, Kino- und Mediengeschichte. Damit sind sie sowohl für ein wissenschaftliches Fachpublikum, aber auch für den Literatur- und Geschichtsunterricht an Schulen von Interesse.

Teil der digitalen Tagebuchedition sind drei Überblickskommentare zu literarischen Netzwerken, Medien und zeithistorischen Diskursen im österreichischen Literaturbetrieb der 1950er Jahre. Diese bieten einen thematisch fokussierten Einstieg in die Tagebücher und sind mit konkreten Stellen aus den Tagebüchern verlinkt. 

Zur Zeitschrift „Neue Wege“, die in der Nachkriegszeit eine wichtige Funktion der Literaturvermittlung an Schulen hatte, gibt es kaum literaturgeschichtliche Forschungsarbeiten. Okopenko veröffentlichte ab 1949 erste Texte in dieser Zeitschrift und war Teil des dortigen „Arbeitskreises junger Autoren“. Die Tagebücher geben erstmals Einblicke in die dortigen Redaktionssitzungen. Auch zu der von Okopenko herausgegebenen Zeitschrift „publikationen“ gibt es Forschungsbedarf. In den Tagebüchern Okopenkos wird deutlich, mit welch großem Engagement er dieses Projekt betrieb. Vor allem aber zeigen sich Diskussionen und Zerwürfnisse der Generation junger AutorInnen, von denen sich nur einige wenige Ende der 1960er Jahre im österreichischen Literaturbetrieb etablieren konnten.


Abb.5: Beilage zu den Tagebüchern Okopenkos: Montage aus Zeitungsausschnitten

Zur Autorin: Dr. Desiree Hebenstreit ist Literaturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Projekt „Edition der Tagebücher Andreas Okopenkos“.

[1] Vgl. Franco Moretti: Graphs, maps, trees. Abstract Models for a Literary History. London, New York: Verso 2005.
[2] Vgl. Franco Moretti: Distant reading. London, New York: Verso 2013.

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