Autorin: Daniela Strigl
Das Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek befindet sich im Grillparzerhaus, dem ehemaligen k.k. Hofkammerarchiv, dessen Direktor Franz Grillparzer bis zu seiner Pensionierung 1856 war. Sein Arbeitszimmer ist Teil der Dauerausstellung und kann heute noch so, wie er es 1856 verließ, besichtigt werden. Der 23. Band der Buchreihe Profile, die vom Literaturarchiv herausgegeben wird, widmet sich dem dichtenden Hofrat. Grillparzers Werke, darunter Dramen wie König Ottokars Glück und Ende oder Der Traum ein Leben, gelten mittlerweile als „Klassiker“ der österreichischen Literatur. Die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl geht in ihrem Beitrag dem schwierigen Umgang mit dem Nationaldichter nach und gibt Anregungen, wie Grillparzer wiederentdeckt und neu gelesen werden könnte. Der ungekürzte Aufsatz ist im Band Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart nachzulesen.
Die ‚Sopranos‘ im Bücherregal
Franz Grillparzer gilt nach wie vor als der österreichische Klassiker, und sei es, dass er in dieser Funktion als Gottoberster einer „Götterdämmerung“ vorsteht. So betitelte Sebastian Fasthuber seine Analyse des zeitgenössischen Umgangs mit klassischen Autoren, die mit der Frage anhebt: „Franz Grillparzer, wer ist das? Germanisten blicken heute oft in ratlose Gesichter, wenn sie in ihren Vorlesungen Bezüge zu kanonischen Werken der Literatur herstellen.“ (Fasthuber 2014: 28) Dass der Nationaldichter an den österreichischen Schulen seinen scheinbar so felsenfest verankerten Platz eingebüßt hat, spiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung: „In den Regalen der Konsumbürger stehen keine in Leder gebundenen Ausgaben von Goethe und Schiller mehr, sondern die gesammelten Staffeln der TV-Serie ‚Sopranos‘.“
War die Klassik, im engeren Sinne, einmal im Namen des Wahren, Guten und Schönen ein Kampfbegriff gegen ‚Schmutz und Schund‘, so umweht sie heute ein Hauch des Obsoleten. Die Um-, besser: Entwertung der literarischen Bildung lässt sich aber auch als Teil eines politischen Programms begreifen, das dem Humanismus den Kampf angesagt hat: „Die Kulturbanausen haben verlernt, sich zu schämen.“ (Fasthuber 2014: 28)
Franz Grillparzers Klassiker-Werdung hatte sich bereits zu seinen Lebzeiten vollzogen, doch abgeschlossen war sie erst, als er bereits ein alter Mann war. Nach vielen Kränkungen durch Publikum, Kritik und Zensur hatte der Durchfall seines Lustspiels Weh dem, der lügt! 1838 am Wiener Burgtheater Grillparzers splendid isolation, seine Verweigerung als öffentlicher Dichter, für Jahrzehnte besiegelt. Am Ende seines Lebens wurde er, zur Entschädigung, wie ein austriakischer Olympier gefeiert.
Gegen die damit einhergehende literarische Erinnerungskultur setzte Marie von Ebner-Eschenbach, die jüngere Zeitgenossin Grillparzers, mit ihren Erinnerungen an Grillparzer 1916 ein Zeichen (vgl. Strigl 2016: 399). Die schon im Titel als subjektiv ausgewiesenen Erinnerungen waren als Korrektiv der geltenden Meinung konzipiert und griffen dabei auf persönliche Erlebnisse ebenso zurück, wie sie Vorurteile über den dichtenden k.k. Archivdirektor zu revidieren und durch eigene Urteile zu ersetzen suchten. In Anekdoten malt Ebner-Eschenbach bewusst ein lebensechtes, farbenfrohes, wiewohl schwarz grundiertes Porträt statt einer Ikone. Es setzt der Heiligsprechung durch das offizielle Österreich – ähnlich wie in der Zweiten Republik im Falle Thomas Bernhards – eine Erinnerung an die stattgehabten Kämpfe, Schikanen und Demütigungen entgegen.
Aus der Funktion Grillparzers als Symbol habsburgischer Supranationalität entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg seine Brauchbarkeit als identitätsstiftende Figur. Zunächst als Garant ewigmenschlicher, humanistischer Werte auch ein Hoffnungsträger des Exiltheaters (etwa in Zürich), avancierte der Dramatiker des Biedermeier 1945 zum kulturpolitischen Mann der Stunde: in Distanz zu, ja gegen Deutschland erschien das prononciert Österreichische Franz Grillparzers als Absage an den Nationalismus, der gerade so katastrophal abgewirtschaftet hatte. Zugleich wurde seine dramatische Weltanschauung im Dienste einer Besinnung auf die eigene, als Folge des großdeutschen Zusammenbruchs einigermaßen überstürzt proklamierte nationale Identität interpretiert.
Grillparzer musste für eine kollektive Selbstvergewisserung als Schutzschild gegen das Deutsche herhalten. (Vgl. Deutsch-Schreiner 1994) Von 1945 bis – vermutlich – in die 1990er-Jahre gab es keinen Gymnasiasten, der nicht irgendwann die geflügelten Worte aus König Ottokars Glück und Ende, Ein Bruderzwist in Habsburg oder Der Traum ein Leben zwecks patriotischer und moralischer Stärkung als Schularbeits- oder Maturathema vorgesetzt bekam. Grillparzer-Sentenzen waren unentbehrliche Bestandteile des klassischen Zitatenschatzes, sie würzten auch den medialen Diskurs.
Der überflüssige Klassiker im 21. Jahrhundert
Nach Jahrzehnten einer Bildungspolitik in diesem Geiste scheint sich der Versuch eines Nation Building mittels Dichterhofrat inzwischen erledigt zu haben. Ob man so weit gehen möchte zu konstatieren, dass er letztlich ja erfolgreich war, oder zu der Erkenntnis gelangt, dass er sich im Gefolge einer neu etablierten Europa-Ideologie schlicht überlebt hat: Grillparzer ist heute so out, wie er es noch nie war.
An der Wiener Germanistik etwa liest der Literaturwissenschaftler Günther Stocker ihn heute als einen marginalisierten Autor, der für die Studenten ein ungelesenes Blatt darstellt – und ist sich nicht sicher, ob er der einstigen Zwangsbekanntschaft nachtrauern soll. (Vgl. Fasthuber 2014: 29) Gerade Grillparzers langjährige Indienstnahme als – noch so kritischer – Patriot scheint sich nun vor dem Hintergrund der aktuell propagierten bildungspolitischen Abwendung von einer traditionellen Nationalgeschichte als gewaltiges Rezeptionshemmnis herauszustellen.
So ist die Präsenz der Grillparzer’schen Dramen in den Spielplänen österreichischer Theater ausgesprochen dünn. Nimmt man zum Beispiel das Wiener Burgtheater, so fand die letzte Grillparzer-Premiere 2013 statt, als Matthias Hartmann Die Ahnfrau als Kleinproduktion im Kasino inszenierte. Zurzeit gibt es keine Werkausgabe, die auf dem Stand der Wissenschaft wäre. In den Gymnasien und übrigen höherbildenden Schulen Österreichs wird, wie eine stichprobenartige Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern ergeben hat, kaum noch Grillparzer gelesen. In den aktuellen Deutschlehrbüchern billigt man ihm zwar nach wie vor einen gewissen Raum zu, doch im Unterricht scheint kein Platz zu sein für eine gemeinsame Lektüre. Ist Franz Grillparzer im 21. Jahrhundert also zum überflüssigen Klassiker geworden? Und wozu brauchen wir eigentlich die Klassiker, wenn wir sie denn brauchen?
Man könnte sagen: Das Wesen des Klassikers besteht darin, dass er, weil zeitlos, immer zeitgemäß ist. Ein Klassiker muss im eigentlichen Sinn nicht ‚ent-staubt‘, er muss nur immer wieder neu gelesen werden. Genau diese Einübung in das literarische Erbe wird heute aber den jungen Menschen von einer Bildungspolitik verwehrt, die den Stellenwert der Literatur in der Schule im Allgemeinen, jenen der klassischen Werke des 18. und 19. Jahrhunderts im Besonderen zu schmälern trachtet. In Österreich wurde diese Entwicklung ohne Zweifel durch die Einführung der Zentralmatura beschleunigt und verschärft. Die gesamte Oberstufe wurde so de facto zu einem Maturavorbereitungskurs degradiert, in dem wenig Zeit bleibt für Dinge, die mit dem Training der geforderten „Textsorten“ (wie Leserbrief, Offener Brief, Empfehlung u.a.) nichts zu tun haben.
Anders als in etlichen deutschen Bundesländern konnten sich die Verantwortlichen hierzulande nicht auf einen Kanon wesentlicher Werke deutscher Sprache, eine Pflichtlektüre für die Oberstufe, einigen. Das führt dazu, dass die Behandlung umfangreicherer Beispiele im Deutschunterricht als Luxus betrachtet wird. Dichtung verkommt so zur bloßen Stichwortlieferantin für aktuelle politisch-ideologische Erörterungen; Fragen nach der künstlerischen Form werden meist gar nicht mehr gestellt.
Der Kanon, griechisch das Lineal, die Richtschnur, ist den sogenannten Bildungsexperten, die nach einer schleichenden feindlichen Übernahme das Feld der Schulpraxis beherrschen, verdächtig: Einen Lehrstoff vorzuschreiben, Wissensgebiete abzustecken halten sie schlicht für reaktionär. Ein Lektürekanon ließe sich aber auch anders deuten: als Einladung für junge Menschen, sich kritisch und intensiv mit Kunstwerken auseinanderzusetzen und nicht mit sachtextkonformen mundgerechten Häppchen abspeisen zu lassen.
Aber welche Werke Grillparzers wären denn heute überhaupt geeignet, den Appetit jugendlicher Leserinnen und Leser zu reizen? Die Frage kann ich hier nicht beantworten, nur einige Andeutungen machen. Natürlich die aufregend aufrichtige „Selbstbiographie“ und die mit Geist und Witz gewürzten Reisetagebücher. Oder zum Beispiel Der arme Spielmann. Und dann die starken, schrecklichen, bemitleidenswerten Frauengestalten Grillparzers, Frauen aus Fleisch und Blut, nicht zu vergleichen mit den ideal scheiternden Schiller’schen. Warum sollte man der Irritation durch das Fremde wie den Gründen und Abgründen menschlichen Begehrens nicht durch die Geschichte der Medea folgen oder der Jüdin von Toledo oder der Sappho, die die Verwirrung zwischen Identität, Eros und Geschlecht atemberaubend ausmisst, allen beschränkenden Codices des 19. Jahrhunderts zum Trotz? Schließlich müsste man Rustans durch inflationäres Zitieren abgebrauchten Erkenntnisgewinn am Ende seiner Traumreise in Der Traum ein Leben nicht unbedingt als anrüchige Devise zum biedermeierlichen Rückzug begreifen. Man könnte ihn mit einer Deutschklasse auch als Absage an erfolgsorientierte Smartness lesen und sich davon provozieren lassen.
Über die Autorin: Daniela Strigl ist Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Essayistin in Wien.
Strigl, Daniela (2016): „Und die Größe ist gefährlich“. Über den schwierigen Umgang mit einem Klassiker, in: Bernhard Fetz, Michael Hansel und Hannes Schweiger (Hrsg.), Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart (= Profile, Bd. 23), Wien: Paul Zsolnay Verlag, S. 9-23.
Deutsch-Schreiner, Evelyn (1994): Die Österreicher und ihr Grillparzer, in: Hilde Haider-Pregler und Evelyn Deutsch-Schreiner (Hrsg.), Stichwort Grillparzer, Wien, Köln, Weimar: Böhlau, S. 181–194.
Fasthuber, Sebastian (2014): Götterdämmerung. Die Klassiker der Literatur sind auf dem Rückzug, in: Falter 45, S. 28–30.
Strigl, Daniela (2016): „Berühmt sein ist nichts.“ Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie, Salzburg, Wien: Residenz Verlag.
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Ausschnitt aus Mahler, Nicolas (2016): „Mir liegt im Grunde an der Produktion nichts mehr.“ – Ein Comic, in: Bernhard Fetz, Michael Hansel und Hannes Schweiger (Hrsg.), Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart (= Profile, Bd. 23), Wien: Paul Zsolnay Verlag, S. 106-111.
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