„…um dessen Besitz wir von vielen Seiten beneidet werden“

Forschung

11.10.2021
Geschichte der ÖNB, Musik
Ausschnitt von einem schwarz-weißen Foto  von vier Personen, die vor einem Haus stehen

Mit Anton Bruckners Tod vor 125 Jahren kamen seine Hauptwerke als Legat an die damalige Hofbibliothek.

Autorin: Andrea Harrandt

Am 11. Oktober 1896 starb Anton Bruckner im Kustodenstöckl des Wiener Belvedere. Bereits am folgenden Tag meldete die Wiener Zeitung: „Es verlautet, daß er die Originalien seiner sämmtlichen Werke der Hofbibliothek hinterlassen habe …“ Und tatsächlich hatte Bruckner dies in seinem am 10. November 1893 errichteten Testament festgehalten:

„Ich vermache die Originalmanuscripte meiner nachbezeichneten Compositionen: der Symphonien, bisher acht an der Za[h]l – die 9te wird, so Gott will bald vollendet werden -, der 3 großen Messen, des Quintetts, des Tedeum’s, des 150. Psalm’s und des Chorwerkes Helgoland – der kais. und kön. Hofbibliothek in Wien und ersuche die Direction der genannten Stelle für die Aufbewahrung dieser Manuscripte gütigst Sorge tragen zu wollen.“

Der Wiener Hof- und Gerichtsadvokat Theodor Reisch (1840-1919), von Bruckner als Testamentsexekutor bestimmt, wandte sich am 19. Oktober 1896 mit dieser Mitteilung an Heinrich von Zeissberg, den damaligen Direktor der Hofbibliothek, und informierte gleichzeitig über die am nächsten Tag stattfindende Kommission in der Wohnung des Verstorbenen. An diesem Termin nahmen sowohl Zeissberg und der damalige Kustos der Musikaliensammlung, Franz Xaver Wöber (1830-1902), als auch Bruckners Schüler Josef Schalk (1857-1900) und Ferdinand Löwe (1863-1925) teil.

Gruppenbild vor Bruckners letztem Wohnhaus im Belvedere, von links nach rechts: Katharina Kachelmaier, Anton Bruckner, Ignaz Bruckner, Prof. Dr. Leopold Schrötter Ritter von Kristelli (von hinten), F28.Göllerich.429

Am 22. Oktober berichtete Zeissberg an das Obersthofmeisteramt:

 „Dabei ergab sich nach Beseitigung der amtlichen Sperre, dass zwei Wandschränke und eine Kiste unter vielen Büchern und anderen Musikalien auch eine grössere Anzahl von eigenhändig geschriebenen Musikwerken Bruckners enthielten, darunter auch solche, die laut Testament der Hofbibliothek zuzufallen haben. Indess lehrte der Augenschein, dass eine sofortige Ausscheidung des letzteren Bestandes von dem übrigen unmöglich, dass diese vielmehr nur auf Grund eingehender Prüfung durchführbar sei. Namentlich gilt dies von den auf einzelnen Blättern vorfindlichen Entwürfen für die unvollendet gebliebene neunte Symphonie, welche gegenwärtig ein wirres Chaos bilden. Daher schlug Herr Hof- und Gerichtsadvocat Reisch vor, und ersuchte beziehungsweise die Direktion der Hofbibliothek ihre Zustimmung dazu zu geben, dass zunächst sämmtliche vorgefundene Manuscripte unter seiner Haftung den beiden genannten Proff. Schalk und Löwe überlassen werden. In Hinblick auf die volle Vertrauenswürdigkeit des Herrn Testamentsvollstreckers und der von ihm ausdrücklich übernommenen Haftung glaubte ich im Namen der Bibliothek zu diesem Vorgang umsomehr meine Zustimmung ertheilen zu sollen, als in der That kaum ein anderer Modus zu denken ist, der geeignet wäre, aus dem gesammten handschriftlichen Nachlasse die unserer Bibliothek von Rechtswegen zufallenden Stücke auszuscheiden. Freilich rief bereits die commissionelle Erhebung den Eindruck hervor, dass der vorfindliche Nachlass die der Bibliothek legirten im Testamente namentlich angeführten Opera nicht selbständig enthalten dürfte und schon zuvor wurde ich durch ein Schreiben des Herrn Testamentsexecutors, das bei den hiesigen Acten Z. 680/1896 hinterlegt darauf vorbereitet, dass die im Testamente aufgezählten Manuscripte nicht vollständig im Besitze des Meisters vorhanden seien, daher erst Nachforschungen über den Verbleib derselben anzustellen sein werden.“

Im Neuen Wiener Tagblatt erschien bereits am 20. Oktober ein Bericht über die Sichtung der Manuskripte. Bemerkenswert ist, dass Franz Xaver Wöber in diesem Zusammenhang als „persönlicher Freund des verblichenen Componisten“ bezeichnet wird. Bisher war dieser Name in Zusammenhang mit Bruckner nicht bekannt.

Anton Bruckner, 9. Symphonie, 3. Satz, Mus.Hs.19481/3, Bl. 133v

Bruckner hatte seit 1868 in Wien gelebt und zeitlebens um Anerkennung als Komponist gerungen. Obwohl als Lehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, als Hoforganist und schließlich auch als Lektor an der Universität tätig, sah er seinen Lebensberuf als Symphoniker und widmete der Komposition seiner Symphonien den Großteil seiner „Freizeit“. Die Aufführungen seiner Werke gingen zunächst nur langsam voran und ernteten vor allem in Wien viel Widerspruch. Erst mit der Aufführung der Siebenten Symphonie am 30. Dezember 1884 in Leipzig setzte zumindest in Deutschland sein Siegeszug ein. In Wien dauerte es etwas länger, bis sich seine Symphonien durchsetzen konnten. Bis zuletzt arbeitete er an seiner Neunten Symphonie, die allerdings unvollendet blieb. Und doch starb Bruckner als anerkannter Komponist, und man war sich seiner Qualitäten und der späteren endgültigen Anerkennung sicher, wie auch Zeissberg in seinem Schreiben festhielt:

„Aber selbst wenn es etwa nicht gelingen sollte, den der Hofbibliothek zugedachten Theil des handschriftlichen Nachlasses vollständig seiner Bestimmung zuzuführen, so darf doch schon heute auf Grund einer summarischen Bewerthung gesagt werden, dass der Hofbibliothek durch das vielerwähnte Legat ein nicht zu unterschätzendes Erbe zufällt, um dessen Besitz wir von vielen Seiten beneidet werden. Denn wenn auch, wie dies bei jeder modernen Kunstschöpfung der Fall ist, so auch über den Wert der hier in Frage stehenden Musikwerke erst eine spätere Zukunft definitiv zu urtheilen im Stande sein wird, so darf doch heute schon der Befriedigung darüber Ausdruck gegeben werden, dass ein Großtheil der Geistesproducte eines der begabtesten u. begeistertsten Tonkünstler Oesterreichs in jener Originalgestalt, die zum Theil noch das allmälige Werden der einzelnen Compositionen zu lehrreicher Anschauung bringt, gerade der Hofbibliothek als Erbtheil zufiel.“

Auch in den Zeitungen wurde von der Aktion berichtet:

„In dem Arbeitsraume des Künstlers, welcher mit dem Porträt von dessen Mutter geschmückt ist und allerlei wunderlichen alten Hausrath enthält, wurde eine sorgfältige Sichtung der eigentlichen Autographen und des übrigen musikalischen Nachlasses vorgenommen und erstere allein, sorgfältig in zwei Kisten verpackt, für die Hofbibliothek in Besitz genommen. Eine sorgfältige Katalogisirung der Originalmanuscripte Bruckner’s war natürlich in der kurzen Frist nicht möglich, dürfte aber baldigst in Angriff genommen werden. Der greise Meister hat durch das Legat offenbar seiner Dankbarkeit für die vielen Gnadenbezeugungen, die ihm von Seite des kaiserlichen Hofes zutheil geworden waren, Ausdruck geben wollen.“ (Neues Wiener Tagblatt 22. 10. 1896).

Für die Suche nach den damals noch fehlenden Werken ließ Reisch einen Aufruf in einigen Zeitungen erscheinen:

Am 27. November übergab Theodor Reisch die vorhandenen Handschriften an die Hofbibliothek. Es fehlten noch die Messe in e-Moll und f-Moll sowie die ersten drei Sätze der Dritten Symphonie. Reisch wurde aufgefordert, für die fehlenden Stücke Sorge zu tragen. In einem Bericht an das Obersthofmeisteramt schrieb Zeissberg außerdem: „Bei dieser Gelegenheit sprach der Testamentsexecutor die Erwartung aus, daß ihm für seine Mühewaltung ein entsprechender Dank zu teil werden würde u. bezeichnete als ein erwünschtes Zeichen derselben die Verleihung des kaiserlich österreichischen Franz Josefsordens.“ Ob Reisch tatsächlich den Orden erhielt, konnte nicht nachgewiesen werden.

Linzer Volkblatt 27. 10. 1896, S. 3 (ANNO)
Übergabeliste der Werke Bruckners an die Hofbibliothek, Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Z. 111/1897

Im Jänner 1897 machte das Obersthofmeisteramt die Mitteilung an Reisch, Schalk und Löwe, „für deren Mühewaltung bei Zustandebringung und Sichtung des von dem verstorbenen Dr. Anton Bruckner der Hofbibliothek vermachten musikalischen Nachlasses in h. ä. Namen verbindlichst zu danken und denselben zur Erinnerung die beiliegende Chiffre Nadeln zukommen zu lassen.“

Alle anderen in der Wohnung des Verstorbenen verblieben Handschriften verteilte Theodor Reisch an Freunde und Verehrer Bruckners und trug damit zur Zerstreuung des Nachlasses und zur bis heute komplizierten Quellenlage bei. Die 14 Originalhandschriften bilden nun den Grundstock der weltgrößten Brucknersammlung, die in den letzten 125 Jahren wesentlich erweiterte werden konnte.

1914 wurden u.a. Skizzen zum Scherzo der Neunten, aber auch Bruckners Taufschein und Reisepass übernommen. 1921 wurden die bisher fehlenden Messen in e-Moll und f-Moll im Ausgleichsweg der Österreichischen Nationalbibliothek überlassen, 1924 wurde das Requiem erworben. Wichtige Dokumente Bruckners, u.a. auch einige seiner Taschennotizkalender, konnten 1927 von der Familie Hueber in Vöcklabruck angekauft werden. Die Nachlässe von Bruckners Schülern Friedrich Eckstein, August Göllerich, Cyrill Hynais, Max von Oberleithner, Josef und Franz Schalk, August Stradal sowie von der Brucknerforscher Max Auer und Franz Gräflinger ergänzten den Bestand um wichtige Abschriften, Briefe usw. Seit 1948 ist auch das Autograph der Dritten Symphonie vollständig vorhanden, die fehlenden Sätze konnten aus dem Besitz von Alma Mahler-Werfel erworben werden. In den letzten Jahren konnte die Sammlung immer wieder durch Ankäufe von Briefen erweitert werden. Mit dem sogenannten Kitzler-Studienbuch gelangte 2013 eine letzte umfangreiche Musikhandschrift Bruckners aus Privatbesitz an die Österreichischen Nationalbibliothek.

Die an der Österreichischen Nationalbibliothek befindlichen Handschriften bilden die Grundlage der Bruckner-Gesamtausgabe, an der auch die Direktoren der Musiksammlung, wie Robert Haas und Leopold Nowak, wesentlich beteiligt waren. Nowak schrieb 1966, „daß die Österreichische Nationalbibliothek das Vermächtnis Bruckners stets als eine ihr sehr hohe Verpflichtung ansah. Sie hat sich mit Erfolg bemüht, diesen Besitz durch die von ihr in Verbindung mit der Internationalen Bruckner-Gesellschaft herausgegebene Bruckner-Gesamtausgabe der musikalischen Welt mitzuteilen – eine Aufgabe, deren Vollendung mit allen Kräften angestrebt wird -, sie hat daher aber auch mit Rücksicht auf diese Aufgabe sich verpflichtet gefühlt, Handschriften Bruckners zu erwerben, wo immer sich die Gelegenheit dazu bot. Sie sammelt, was zerstreut wurde, das ist aber eine der vornehmsten Aufgaben, die eine Bibliothek überhaupt erfüllen kann.“ 1974 wurde zum 150. Geburtstag Bruckners eine Ausstellung im Prunksaal veranstaltet.

Bruckners Wunsch, für die Aufbewahrung seiner Manuskripte „gütigst Sorge tragen zu wollen“, wurde von Anfang an bis zum heutigen Tage und wird auch weiterhin mit großem Engagement erfüllt. 

Über die Autorin: Frau Dr. Andrea Harrandt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Nationalbibliothek

Literatur:

Leopold Nowak, Das Bruckner-Erbe der Österreichischen Nationalbibliothek, in: ÖMZ 21. Jg., Oktober 1966, H. 10, S. 531

www.bruckner-online.at

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