Lieber Hänsel

Forschung

12.11.2020
Handschriften und alte Drucke, Literatur
Ausschnitt Brief
Briefquellen zur Freundschaft Ludwig Wittgenstein – Ludwig Hänsel

Autor: Alfred Schmidt

Eine der letzten großen noch im Antiquariatshandel angebotenen Briefsammlungen zu Ludwig Wittgenstein (1889–1951), dem wohl wichtigsten österreichischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, konnte kürzlich von der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek erworben werden. Sie enthält insgesamt 259 Korrespondenzstücke aus dem Umkreis von Wittgensteins engem Freund Ludwig Hänsel (1886–1959) aus den Jahren 1919–1951. Teil der Sammlung sind 115 Briefe von Ludwig Wittgenstein an Hänsel (inklusive zwei an seine Gattin Anna Hänsel), 12 Gegenbriefe von Hänsel sowie zahlreiche Briefe von Mitgliedern (und Freunden) der Familie Wittgenstein an Hänsel, davon 39 bisher unpublizierte (93 Briefe von Ludwigs Schwester Hermine, 12 von Schwester Margaret Stonborough, 3 ihres Sohnes John Stonborough, 2 von Schwester Helene Salzer, 3 von Bruder Paul, 6 von seiner Mutter Leopoldine Wittgenstein, 7 von seiner Tante Clara sowie 7 von gemeinsamen Freunden). 

Die zum überwiegenden Teil bereits publizierten Briefe (vgl. Somavilla 1994) sind Zeugnisse einer lebenslangen engen Freundschaft, die auf ihre gemeinsame  Zeit im Kriegsgefangenenlager in Cassino 1919 zurückgeht. Am 3. November 1918 gerät Ludwig Wittgenstein an der Front bei Asiago in italienische Kriegsgefangenschaft. Wenige Monate zuvor, während seines letzten Fronturlaubes in Wien im August/September 1918 hatte er die vorläufige Endfassung seines legendären Frühwerks, der Logisch-philosophischen Abhandlung (später publiziert als Tractatus logico-philosophicus) diktiert. Im Kriegsgefangenenlager in Cassino lernt er den um drei Jahre älteren Mittelschullehrer Ludwig Hänsel kennen. Beide verbindet ein leidenschaftliches Interesse für Philosophie und Literatur. In einem Brief an seine Frau vom 20.2.1919 aus dem Kriegsgefangenlager in Cassino beschreibt Hänsel den tiefen Eindruck, den die charismatische Persönlichkeit Wittgensteins auf ihn machte:  

"Ich habe einen jungen (30 jährigen) Logiker kennen gelernt, der gedanklich bedeutender ist als alle etwa Gleichaltrigen vielleicht überhaupt als alle Menschen, die ich bis jetzt kennen gelernt habe ‒ ernst, von edler Selbstverständlichkeit, nervös, von einer kindlichen Fähigkeit, sich zu freuen. Er heißt Wittgenstein." (Somavilla 1994, S. 15) 

Wie Hänsel in seinem Tagebuch aus dieser Zeit (vgl. Somavilla 2012, S. 44 ff) festhält, führt er lange Gespräche mit Wittgenstein, häufig über religiöse Themen wir etwa Tolstois Interpretation der Evangelien und Wittgenstein macht ihn mit den Grundlagen der modernen Logik Freges und Russells vertraut. Er zeigt ihm das Typoskript seiner Logisch-philosophischen Abhandlung, zu deren ersten Lesern Hänsel wohl zählte – nur der von Wittgenstein hoch geschätzte Gottlob Frege hatte bereits im Dezember 1918 eine Kopie erhalten.

Textgeschichtlich interessant ist, dass sich im Typoskript 204 der Logisch-Philosophischen Abhandlung, (heute in der Österreichischen Nationalbibliothek: Cod. Ser. n. 37.937) ein handgeschriebenes Blatt (S. 10a) befindet, das aus der Hand Ludwig Hänsels stammt. Das Rätsel klärt sich aus dem Briefwechsel Wittgensteins: Ludwigs Schwester Hermine hatte noch im Dezember 1918 im Auftrag ihres Bruders, eine Kopie der Abhandlung an Gottlob Frege geschickt. Grundlage war das Typoskript 204, das bei ihr in Wien geblieben war, in dem aber offenbar eine Seite fehlte. Daraufhin bittet sie ihren Bruder brieflich (am 10.1.1919) um eine Kopie dieser Seite aus dem TS 202 (heute in der Bodleian, Oxford), das Ludwig im Kriegsgefangenlager in Cassino bei sich hatte. Offenbar war es aber schließlich Ludwig Hänsel der dieses Blatt abschrieb, um es zu Hermine nach Wien zu schicken. Es befindet sich bis heute im TS 204 (vgl. dazu Graßhoff / Lampert 2004, S.13f). 


Abb. 1: L. Wittgenstein: Logisch-Philosophische Abhandlung TS 204, S. 10a; handschriftliche Einfügung von Ludwig Hänsel (Cod. Ser.n. 37.937) 

Wittgensteins Entscheidung nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Lehrer zu werden, dürfte wesentlich auf Hänsels Einfluss zurückgehen. (Als Alternative überlegte er, Mönch zu werden. Vgl. McGuinness 1988, S. 432). Hänsel unterstützt seinen Freund tatkräftig während seiner folgenden Jahre als Volksschullehrer im südlichen Niederösterreich. Wittgensteins wendet sich immer wieder mit Bitten um Schulbücher und andere Unterrichtsmaterialien an Hänsel, die dieser in Wien besorgt und zusendet. Die zahlreichen Briefe Hermine Wittgensteins an Hänsel zeigen, wie sehr sie diese Unterstützung ihres Bruders durch Hänsel schätzte. Sie zeigt sich umgekehrt immer wieder durch Lebensmittelgeschenke an die Familie Hänsel erkenntlich. Hänsel übernimmt in dieser Zeit eine Vermittlerrolle zwischen Ludwig und seiner Familie, von der er sich immer mehr distanziert, worunter vor allem Hermine leidet. 


Abb. 2: „Herzliche Grüße von Ihrem häuslichen Herd, an dem ich gerade ein Diner von 2 Gängen für Hänsel & mich zubereitet habe. Es geht mir viel zu gut bei Ihnen. Ihr dankbarer L. Wittgenstein.  
Herzliche Grüße! Herr W. führt eine ausgezeichnete Küche! D. Ludwig. Grüße an die Kinder von uns beiden.“ 
Postkarte von L. Wittgenstein (gem. mit. L. Hänsel) an Anna Hänsel vom 4.8.1923, die ihn mit seiner Schulklasse in Puchberg am Schneeberg zeigt. (Autogr. 1870/10-2 HAN MAG, Somavilla1994, S.76)

Auch während Wittgensteins späterer Zeit in Cambridge ab 1929 blieb der Kontakt zu Hänsel eng; Wittgenstein besucht die Familie Hänsel regelmäßig bei seinen Wien-Aufenthalten. Hänsel pflegt außerdem enge Kontakte zu Ludwigs Geschwistern, gemeinsame Konzertbesuche sind ein wiederkehrendes Thema in den Briefen. Bei ihrem Aufenthalt in Wien in ersten Halbjahr 1950 wohnt die Wittgenstein-Schülerin Elisabeth Anscombe für mehrere Wochen bei der Familie Hänsel in Wien (Vgl. Wittgensteins Briefe an Hänsel vom 29.5. und 23.6.1950).  

Ludwig Hänsel, 1886 in Hallein geboren, besuchte das Gymnasium in Salzburg, wo er sechs Jahre mit Georg Trakl in derselben Klasse war – und auch einer der ersten, der sich nach dessen frühen Tod 1914 intensiv mit seiner Dichtung auseinandersetzte (vgl. Somavilla 1994, S. 362ff). Nach seinem Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Graz unterrichtete er an verschiedenen Wiener Gymnasien, ab 1929 als Schuldirektor. Er hielt daneben Kurse an der Volkshochschule, betätigte sich aktiv in verschiedenen kulturellen Organisationen und Vereinen und war zeitweise auch Vizepräsident der Österreichischen UNESCO-Kommission. Zahlreiche Artikel und Vorträge zu Themen der Philosophie, Literatur, Religion und Pädagogik zeigen seine breit gestreuten Interessen. In der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek befindet sich ein umfangreicher Teilnachlass zu Ludwig Hänsel, der u. a. 98 Werkmanuskripte und zahlreiche Lebensdokumente enthält (Signaturen Cod. Ser. n. 54.581 bis 54.692). 

     
Abb. 3: Ludwig Hänsel ca. 1915 (» Cod. Ser. n. 54689 HAN MAG) & Abb: 4: Ludwig Wittgenstein, Aufnahme Moritz Nähr 1930 (ÖNB Bildarchiv: Pf 42.805 : C (1)) 

Ludwig Hänsel zählte zusammen mit Rudolf Koder zu den engsten österreichischen Freunden Wittgensteins. Er schätzte Hänsel als humanistisch gebildeten, verlässlichen Freund, dessen katholisch geprägten Konservativismus Wittgenstein zwar nicht teilte, wohl aber schätzte. Der Freund bietet ihm moralischen Halt in seinen häufigen seelischen Krisen, und es ist kein Zufall, dass er Hänsel als ersten für seine berüchtigten „Geständnisse“ auswählte, mit denen er in den Jahren 1936/37 eine Reihe seiner engsten Freunde überraschte (vgl. Monk 1992, S. 391). Wittgensteins Eingeständnis seiner Lüge bezüglich seiner zu drei Vierteln jüdischen Abstammung ist beklemmend  und weist voraus auf die lebensbedrohliche Situation, in der sich seine in Wien verbliebenen Schwestern Hermine und Helene seit dem Einmarsch Hitlers in Österreich im März 1938 befanden (vgl. dazu Monk 1992, S 419f.). 

     
Abb. 4 & 5: Autogr. 1870/19-3 HAN MAG; Somavilla 1994, S.136) 

7.11.36. 

Lieber Hänsel! 

Ich habe Dich & mehrere Andere einmal in der italienischen Gefangenschaft damit angelogen, daß ich sagte, ich stamme zu einem Viertel von Juden ab & zu drei Viertel von Ariern, obwohl es sich gerade umgekehrt verhält. Diese feige Lüge hat mich lang gedrückt, & ich habe diese Lüge, wie viele andere, auch andern Menschen gesagt. Ich habe bis heute nicht die Kraft gefunden, sie zu gestehen. ‒ Ich hoffe, Du wirst mir verzeihen; ja ich hoffe sogar, Du wirst mit mir weiter & so wie bisher verkehren & mich nicht weniger gern haben. Ich weiß, das ist viel erwartet, aber dennoch hoffe ich es. Ich habe Dir auch sonst noch manche Lüge abzubitten. ‒ Ich wünsche, daß Du diesen Brief Deiner lieben Frau & den Kindern, meinen Geschwistern & ihren Kindern, dem Drobil & meinen übrigen Freunden & der Frau Sjögren bekanntmachst; d.h. ihn ihnen zu lesen gibst. Mögen auch sie mir alle verzeihen; ich weiß, daß ich Dir & Allen einen großen Schmerz zufüge & doch muß ich es tun. Ich fürchte, daß mir mancher vielleicht nicht ganz wird verzeihen können. Ich will heute nicht mehr schreiben. Leb wohl!  
(Autogr. 1870/19-3 HAN MAG; Somavilla 1994, S.136)

Der überwiegende Teil der Korrespondenz Ludwig Wittgenstein – Ludwig Hänsel ist pragmatischen Themen wie gegenseitigen Besuchen oder Wittgensteins Bitten um die Besorgung von Schulmaterialien gewidmet. Am 19.2.1937, aus der norwegischen Polarnacht in Skjolden, schreibt Wittgensteins allerdings einen bemerkenswerten Brief, in dem er sich mit Hänsels Aufsatz Das Relative und das Absolute (abgedruckt in Somavilla 1994, S180–89) auseinandersetzt. Sein Urteil ist vernichtend und entspricht seiner Forderung nach schonungsloser Ehrlichkeit gegenüber Freunden, die alle Grenzen höflicher Zurückhaltung weit hinter sich lässt: 

„Das glaube ich klar zu sehen, daß der Aufsatz über "Das Relative & d. Absolute" schlecht, sehr schlecht ist;… 
Du schreibst im ersten Aufsatz: "Der Hinweis auf Widersprüche ist immer wieder das stärkste Argument in der Hand des flachen & bequemen Geistes gegen alles 'Absolute'". "Und auch für", schrieb ich hinein. Aber das beweist natürlich nichts gegen oder für das Absolute, & es heißt nur, daß, solang der Geist flach & bequem ist, er nicht für oder gegen das Absolute argumentieren soll. Und Freund! wenn der flache & bequeme Geist nicht aus Deinem Aufsatz spricht, so weiß ich nicht, wo diese Worte anzuwenden sind! ‒ Welch ein Gemengsel von ganz ungenügend Verdautem & Durchdachtem! Dazu die Ungründlichkeit: Z.B. Die vierte Dimension, ein Paradox der Wissenschaft?! Wer hat Dir das gesagt? Und was weißt Du von der "Materie, die sich in Energie verwandelt"? Ist ein, den Uninformierten paradox klingender Ausdruck ein Paradox?! ‒ Wenn ich in diesem Aufsatz lese, so erinnert er mich an das, was einer erbricht: Halbverdaute Speisebrocken & eigener Schleim. Ich will den Vergleich nicht fortsetzen. ‒“  
(Autogr. 1870/20-1 HAN MAG; Somavilla 1994, S.140 ff.) 

Wittgensteins Kritik ist weniger eine inhaltliche als eine ethische: er wirft dem Freund vor, sich anmaßend über Dinge zu äußern, mit denen er sich nicht ernsthaft beschäftigt habe. Ihn stört „die Oberflächlichkeit des Denkens und eine Art Phrasenhaftigkeit. Ein Mangel an Tiefe des Nachdenkens“, sein Rat lautet „Und, ich glaube, tieferes Nachdenken würde Dich zunächst nicht dahin führen, besser über diese Dinge zu schreiben, sondern, das Schreiben bleiben zu lassen.“  
Aber auch diese harten Worte konnten ihre gegenseitige tiefe Wertschätzung und die bis zum Tod Wittgensteins 1951 reichende Freundschaft nicht erschüttern.  

Über den Autor: Dr. Alfred Schmidt ist wissenschaftlicher Assistent der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek.

Literatur: 

Graßhoff, Gerd / Lampert, Timm (2004): Ludwig Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung. Entstehungsgeschichte der Typoskripte und Korrekturexemplare. Wein, New York : Springer 

MacGuinness, Brian (1988): Wittgensteins frühe Jahre.  Frankfurt am Main : Suhrkamp  

Monk, Ray (1992): Wittgenstein: das Handwerk des Genies. Stuttgart : Klett-Cotta 

Somavilla, Ilse (1994) : Ludwig Hänsel – Ludwig Wittgenstein. Eine Freundschaft. Briefe. Aufsätze. Kommentare. Hrsg. von Ilse Somavilla, Anton Unterkircher und Christian Paul Berger, Innsbruck : Haymon  

Somavilla, Ilse (2012): Begegnungen mit Wittgenstein – Ludwig Hänsels Tagebücher 1918/19 und 1921/22. Innsbruck : Haymon

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