„jetzt“: Zu einem Zentralbegriff im künstlerischen Universum Gerhard Rühms.

Forschung

12.02.2020
Literatur
Collage, wiederholt das Wort "Jetzt"
Ein Beitrag zum 90. Geburtstag

Autor: Bernhard Fetz

„Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,

So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.“ (Rühm 2016: 303)
 

Am Schluss seines Aufsatzes grundlagen des neuen theaters von 1962 formulierte Gerhard Rühm folgende Sätze: „denn hier (im neuen theater) wird nichts mehr vorgetäuscht, nichts beschrieben und nichts erzählt. es verhält sich so, wie es geschieht, und es geschieht jetzt und da, unter diesen oder jenen umständen (gegebenheiten). form und inhalt, darsteller und dargestelltes sind identisch. es ist immer gegenwart.“ (Rühm 2008: 54) Wie dieser Anspruch in unterschiedlichen Gattungen, vom Frühwerk bis zu den jüngeren Arbeiten, realisiert wurde, ist im Folgenden beispielhaft dargestellt.

angelus. eine biographische litanei

Der im Titel zitierte Spruch stammt aus dem Cherubinischen Wandersmann, dem 1657 erstmals publizierten Hauptwerk des aus Schlesien stammenden Barockdichters Johannes Scheffler, der sich Angelus Silesius nannte. Er liegt der „meditation 2“ in Gerhard Rühms Hörspiel angelus. eine biographische litanei zugrunde, das zwischen 1985 und 1987 entstand und 2015 überarbeitet wurde. Zunächst habe ihn, so schreibt der Autor in einem Kommentar, die Nähe von Zen-Buddhismus und Christentum in den Texten und Praktiken christlicher Mystiker angesprochen (Vgl. Rühm 2016: 668). Außerdem sind der Hörspiel-Text sowie die beigefügten Musik-Notationen ein Beispiel für die Mehrstimmigkeit als musikalisch-akustisches Ereignis wie als poetologisches Prinzip; es entstehen Beziehungen zwischen ganz verschiedenen inhaltlichen und formalen Elementen: 3 Sprecher und 3 Sprecherinnen tragen dokumentarische Texte vor, die vom Horror der Gegenwart und den Gräueln des 30-jährigen Krieges berichten. Danach bringen sie „in freier auswahl“ die Zeitwörter „grölen, heulen, keuchen, kichern, kreischen, lachen, lallen, röcheln, schluchzen, schreien, stöhnen, wimmern“ zum „lautlichen ausdruck“. (Vgl. Rühm 2016: 308). Die Artikulation emotionaler Ausnahmezustände wie Entsetzen, Trauer, Angst, aber auch Freude und Übermut, verbindet das Vorgetragene auf einer nichtsprachlichen Ebene. Ein Solosprecher trägt simultan dazu, in litaneihaftem Tonfall und in chronologischer Abfolge, verschiedene Lebensstationen des Angelus Silesius vor. In diese Abfolge sind Zitate aus den Texten christlicher Mystiker einmontiert. Sie entstammen der sehr wahrscheinlichen Lektüre-Biographie des Dichters und Mystikers. Die Solostimme dominiert, die restlichen Stimmen bilden ein „stimmengeflecht“ (Rühm 2016: 668). Durch dieses Verfahren wird eine Transzendierung des „zeithistorisch und individuell geprägten ins gleichnishaft allgemeine“ evoziert (Rühm 2016: 303), man könnte auch sagen in ein universales Jetzt.  

Auch durch die Verschränkung von textlichen, lautlichen und musikalischen Elementen ist die biographische litanei ein Beispiel für die ausgeprägte intermediale Arbeitsweise des Künstlers. Rühm spricht von „musikalische(n) transformationen“ (vgl. Rühm 2016: 293): Die einzelnen Buchstaben bestimmter Zitate werden in alphabetischer Lautschreibung bestimmten Tönen zugeordnet; die Worte werden also nicht gesprochen, sondern – transponiert –  auf Musikinstrumenten gespielt. Die diesen musikalischen Abschnitten vorangestellten „sprach-meditationen“ betreiben zusätzlich eine Entgrenzung auf der phonetischen Ebene, sie spielen auf das religionspsychologische Phänomen des Zungenredens, der Glossolalie, an. Die „musikalischen teile“ versuchen etwas „spürbar zu machen […] was über den engeren sprachlichen ausdruck hinausgeht“. (Vgl. Rühm 2016: 668) Auch hier gilt, was Rühm 1973 in einem Vortrag zum Symposium zweifel an der sprache formulierte: „inhalt ist nur als form verständlich und zwar nur so weit, als er form ist.“ (Rühm 2008: 76)


Abb. 1: Partiturbeispiel aus angelus. eine biographische litanei (vgl. Rühm 2016: 319)


Die immer wieder konstatierte Analogie zwischen rituellem Sprechen und dichterischem Ausdruck hängt eng mit den Präsenzqualitäten von Ritual und Dichtung zusammen – sei diese Analogie nun strukturell beschreibbar, als litaneihaftes Sprechen etwa, oder historisch, als in verschiedenen Kulturen auffindbares Phänomen: Erst in der stimmlichen Realisierung gewinnen die niedergelegten heiligen Texte ihre performative Kraft und rituelle Energie. Im lauten Sprechen, aber auch in der inwendigen stummen Realisation, gewinnen das Gedicht und das Gebet Gestalt und Bedeutung. Es kommt etwas hinzu, ohne dass dieses Hinzugefügte eine argumentativ nachvollziehbare Bedeutung hätte. Außerdem entsteht durch die lebendige Stimme ein soziales Band, eine Glaubensgemeinschaft, oder für die Dauer etwa eines Sprechgedichtes eine Gemeinschaft aus Hörerinnen und Hörern. Die Verbindungslinien zwischen dem religiösen Sprechen und der avantgardistischen Tradition sind vielfältig. Man denke nur an Richard Huelsenbecks Phantastische Gebete von 1916 oder an Ernst Jandls zahlreiche Anrufungen einer religiösen Sprache oder an das gebet an Euch von Oswald Wiener und Konrad Bayer (Rühm 1985: 338) oder an Gerhard Rühms eindringliches Sprechgedicht gebet (Rühm 2012: 21 f.).

Das Hörspiel damentennis

Ein weiteres Verfahren, nämlich mittels technischer Manipulation des Ausgangsmaterials Gegenwärtigkeit zu erzeugen und dabei auf die nonverbalen Ausdrucksqualitäten menschlicher Sprache hinzuweisen, führt Rühm eindrucksvoll im Hörspiel damentennis vor, produziert und ausgestrahlt 1994. Ausgangspunkt ist der auf 15 Minuten verkürzte Mitschnitt des legendären Wimbledon-Endspiels 1994 zwischen der Seriensiegerin Martina Navratilova und der Newcomerin Conchita Martinez, die überraschend gewann; „anders als in der realität bleibt der ausgang im hörspiel jedoch offen.“ (Rühm 2016: 355) So interessant eine immer spekulativ bleibende Beschreibung der Gründe, die zur Niederlage führten, der psychologischen und körperlichen Voraussetzungen der Kontrahentinnen auch sein mag – sie erschöpfte sich in der Rekonstruktion eines außerordentlichen Ereignisses der Tennisgeschichte. Rühm setzt bei der Bearbeitung des akustischen Materials der Live-Übertragung an: „auf die montage der akustisch signifikantesten passagen dieser spannenden begegnung folgen kontinuierlich verkürzte wiederholungssequenzen der höchst emotionsgeladenen endphase des spiels, die schliesslich in eine algorithmisch rotierende zeitfalle münden. sie bricht erst ab unter der trockenen absage des hörspiels.“ (Rühm 2016: 355) Zu den hörbaren körperlichen Entäußerungen, die die Zuhörer und Zuseher beinahe zu Voyeuren eines intimen Geschehens machen, gesellt sich die rhythmische Qualität eines fast musikalischen Vorgangs (der durch ein Musikzitat zu Beginn, des Ballets jeux von Claude Debussy, noch verstärkt wird.)

Was ist mit diesem Verfahren gewonnen? Die Historizität des Sportereignisses wird zum Jetzt eines fast archetypischen Geschehens, das auf den kommunikativen Aspekt gesprochener Sprache verzichtet. Dieses Hörspiel ist pure Gegenwart. Jedes Mal aufs Neue evoziert es bei den Hörerinnen und Hörern Gefühle wie Faszination, Lust und Aggression. Das Rühmsche damentennis steht in Spannung zu dem strengen Regeln gehorchenden Ereignis, den Spielregeln wie den gesellschaftlichen Regeln.

Frühe Lautgedichte

Bereits das Frühwerk des Autors kann als künstlerische Meditation und experimentelle Reflexion über das „jetzt“ charakterisiert werden. Im Lautgedicht so lange wie möglich aus dem Jahr 1962 wird der erste Laut im Alphabet, das a, zunächst „wohlklingend artikuliert“ und dann so lange ausgehalten wie es nur möglich ist, „bis zum völligen versiegen des atems“. Gerhard Rühm hat die Realisation dieses Gedichts als „eine elementare demonstration des verbrauchs von ‚schönheit‘ und ‚frische‘ durch dauer, durch die zeit“ bezeichnet. Es realisiert eine „letzte sprachliche reduktionsstufe“, die erreicht wird, wenn nur mehr Knacklaute zu hören sind, bevor dem Sprecher der Atem ausgeht. (Vgl. Rühm 2012: 27) In Rühms eigenem Vortrag dauert so lange wie möglich 26 Sekunden. [1]

Ganz so weit geht das atemgedicht von 1954 (noch) nicht. Auf das viermalige Ein- und Ausatmen folgt das Einatmen bei angehaltenem Atem, bis zum erlösenden Ausatmen. (Rühm 2012: 23) Einem ähnlichen Prinzip folgt versuch einer mitteilung von 1962 mit der Anweisung: „tonloser sprechversuch bis zum äussersten anschwellen der adern.“ (Rühm 2012: 28)

Ein entscheidendes Moment kurzer Hörstücke ist die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart: „man wird mehr auf die gegenwart achten – also spontaner erleben, differenzierter wahrnehmen, überraschungen zugänglicher sein.“ (Rühm 2008: 91) Ein Beispiel auditiver Poesie aus dem Jahre 1960 belegt dies eindrucksvoll: Bei den studien für zwei, drei und vier sprecher („sehen / sprechen / gehen / eng / jetzt“) handelt es sich um von Rühm so bezeichnete Simultangedichte. Der Abschnitt „jetzt“ kommt mit ganz wenigen Wörtern aus, deren simultaner Vortrag eine Verlusterfahrung als Jetzterfahrung zugleich beschreibt und erfahrbar macht. Vorstellbar ist eine Geschichte, in der jemand um eine verlorene Geliebte, einen verlorenen Geliebten trauert. Der Text befreit die Narration aus dem Gefängnis raum-zeitlicher und psychologischer Determinanten und überführt sie in ein akustisches Geschehen. Übrig bleibt das mobile Gerüst einer Geschichte, bestehend aus den Temporal-, Lokal- und Modaladverbien gestern, jetzt, noch, hier, fast und dem Personalpronomen du. Das angesprochene du ist das letzte, von allen vier Sprechern in unterschiedlichen Lautstärken simultan gesprochene Wort. (Vgl. Rühm 2012: 804 f.) Es entsteht ein Geflecht, in dem das Vergangene im Gegenwärtigen mitschwingt. Das Simultangedicht ist Ansprache, Beschwörung, Appell, Erinnerung, man könnte auch sagen: ein akustischer und in der Notierung visueller, streng choreografierter Wörtertanz um das „jetzt“.

Abb. 2: Gerhard Rühm: studien für zwei, drei und vier sprecher. Partitur zum Abschnitt „jetzt“ (Rühm 1988: 252)
 

Die frühen Lautgedichte, jetzt und heute gültige Beispiele einer auditiven Poesie, ebenso wie der zitierte Aufsatz über das neue Theater von 1962, die Hörspiele und die visuellen Bearbeitungen des Wortes „jetzt“, zeigen die Konstanz der Auseinandersetzung mit Form und Inhalt dieser Zentralvokabel über Jahrzehnte. Sie zeigen auch beispielhaft die intermedialen Dimensionen des Rühmschen Universums.

Visuelle Poesie

Bereits 1958 war auf einer Einladungskarte der Galerie Würthle die Typocollage Jetzt abgedruckt. (Vgl. Weibel 1997: 523) Die Differenzierungen der Tonstärken in auditiven Texten ist hier visuell ausgedrückt durch die Größe der Buchstaben. Sie steht in einer Reihe visueller Arbeiten, die den Begriff mit Mitteln der Typocollage, der Schriftzeichnung, des Schreibmaschinenideogramms, oder auch als Ergebnis einer skripturalen Motorik erforschen: in Hinblick auf seine typografischen Qualitäten, unter Einbezug der emotionalen Dimensionen handschriftlichen Ausdrucks, mittels Thematisierung des Verhältnisses von begrenztem Raum (das Blatt Papier, die Welt) und unendlichem Raum (das Universum). Im folgenden einige Beispiele dieser ab etwa 1956 entstandenen Arbeiten:


Abb. 3: Typocollage Jetzt (1958)
 


Abb. 4: Typocollage Now (1962, Rühm 2006: 180)

Abb. 5: Schreibmaschinenideogramm atmen (o.D., Rühm 2006: 49)


Abb. 6: Schriftzeichnung ich bin jetzt wieder hier (1971, Rühm 2006: 367)

Abb. 7: Jetzt (skripturale Motorik) (1985, Rühm 2006: 589)
 

Noch einmal: Jetzt

In Rühms berühmtem Prosatext die frösche (1958) unternimmt ein „ich“ an einem Sommerabend einen Spaziergang zum Neusiedlersee, vom Ort Mörbisch zur Seebühne. Realistisches, konventionelles Erzählen scheitert an dem Anspruch zu verstehen was geschieht, wenn Erleben und Empfinden in Sprache übergehen:

ich denke jetzt. immer ist jetzt. ich werde überholt. von rückwärts wächst ein lichtstreifen über mich, hell und heller, wirft meinen schatten nach vorn, streckt ihn aus, lang-gezogen, krümmt ihn und fegt ihn hinunter rechts in den tümpel zu ihnen! […] … jetzt beginne ich zu unterscheiden: risse steine froschleiber (sprungbereit)? habe noch glück gehabt, hätte es spüren müssen. die sohle auf weichem. weiches: weich. zuckt zapplig. vielleicht schon hin. oder verwundet, schwere verletzung (innere), beine zerquetscht oder so. stelle es mir vor. muss es mir vorstellen […]. sind keine schönen gedanken. warum eigentlich nicht?

(Rühm 1968: 128 f)

Im Wort „jetzt“ schießen die Vorstellungsinhalte der abstrakten Begriffe Präsenz und Evidenz zusammen: „jetzt“ verheißt ein unmittelbares Erleben der Gegenwart, ein Dasein und Hiersein, meditatives Innehalten, aber auch Plötzlichkeit und Tempo – wie in der „litanei“ rausch, einem Text, der mit starken „temposchwankungen, ausdrucks- und lautstärkekontrasten“ vorgetragen werden soll bis hin zum „jetzt!!“ der letzten Zeile, das geschrien, und bis zum abschließenden „sind!!!“, das gebrüllt werden soll. (Rühm 2012: 250)

„nein, weder du noch ich

werden noch einmal so werden,

werden, wie wir jetzt, jetzt, ja jetzt!!sind!!!“ (Rühm 2012: 253)
 

Zum Weiterlesen: » Arnhilt Inguglia-Höfle und Sanna Schulte: Das Archiv des Archivars. Ein Streifzug durch den Vorlass Gerhard Rühms am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek

[1] Nachzuhören auf einer Aufnahme, die dem Band botschaft an die zukunft mit gesammelten Sprechtexten beigelegt ist. Gerhard Rühm: botschaft an die zukunft. Hamburg: Rowohlt Verlag 1975. Audiocassette, Seite 1. In einer früheren, etwas kürzeren akustischen Realisation (ca. 25 Sekunden) auch in: Gerhard Rühm: Zweite Folge kurzer Hörstücke. Hessischer Rundfunk / WDR 1975.

Über den Autor: Univ. Doz. Dr. Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs, des Literaturmuseums und der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek.

Literatur:

Rühm, Gerhard (1968): fenster. texte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.

Rühm, Gerhard (Hrsg.,1985): Die Wiener Gruppe. Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Texte, Gemeinschaftsarbeiten, Aktionen. Erw. Neuausg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.

Rühm, Gerhard (1988): botschaft an die Zukunft: gesammelte Sprechtexte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag. 

Rühm, Gerhard (2006): gesammelte werke. 2.1: visuelle poesie. Hrsg. von Michael Fisch. Berlin: Matthes & Seitz.

Rühm, Gerhard (2008): Aspekte einer erweiterten Poetik. Vorlesungen und Aufsätze. Mit einem Nachwort von Jörg Drews. Berlin: Matthes & Seitz.

Rühm, Gerhard (2012): gesammelte werke. 3.1: auditive poesie. Hrsg. von Monika Lichtenfeld und Michael Fisch. Berlin: Matthes & Seitz.

Rühm, Gerhard (2016): gesammelte werke. 3.2: radiophone poesie. Hrsg. von Paul Pechmann. Berlin: Matthes & Seitz.

Weibel, Peter (Hrsg. 1997): Die Wiener Gruppe: ein Moment der Moderne, 1954 - 1960; die visuellen Arbeiten und die Aktionen; Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener [die österreichische Ausstellung im Rahmen der Biennale von Venedig 1997]. Wien u.a.: Springer Verlag.

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