Die Musikautographen-Sammlung der Familie Stonborough-Wittgenstein

Forschung

14.06.2018
Literatur, Musik
Stonborough
Zu einem Objekt der Ausstellung „Berg, Wittgenstein, Zuckerkandl“ im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.

Autor: Alfred Schmidt

Unter den Objekten der gegenwärtigen Ausstellung im Literaturmuseum » Berg, Wittgenstein, Zuckerkandl – Zentralfiguren der Wiener Moderne (zu sehen noch bis 17. Februar 2019) befindet sich ein interessantes Dokument aus dem Hausarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Es handelt sich um einen Briefentwurf von Generaldirektor Paul Heigl vom 7. Dezember 1939 an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, der einerseits den Umfang und die Bedeutung der Sammlung von Musikhandschriften der Familie Stonborough-Wittgenstein belegt, andererseits auch als politisches Zeitdokument von großem Interesse ist. Der Hintergrund dieses Dokumentes soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

Jerome Stonborough, der Mann von Margaret Stonborough-Wittgenstein, nahm sich im Juni 1938 in der Villa seiner Frau in Gmunden das Leben (vgl. Prokop 2003, S. 225). Er hinterließ neben einer umfangreichen Gemäldesammlung[1] auch eine Sammlung wertvollster Musikautographen, die er in der Inflationszeit in Wien erworben hatte. Sie gelangten ins Eigentum seiner Witwe Margaret, ihrer Söhne John und Thomas sowie ihrer Geschwister Hermine, Helene und Paul Wittgenstein.


Margaret Stonborough

Wie aus einem Akt der Zentralstelle für Denkmalschutz hervorgeht, erfolgte am 12. Dezember 1938 die denkmalbehördliche „Sicherstellung“ dieser bedeutenden Musikautographen-Sammlung aus der Hinterlassenschaft Jerome Stonboroughs im Haus von Margaret Stonborough im dritten Bezirk in Wien, Kundmanngasse 21. Als Grund wurde von der Magistratsabteilung 50 die angebliche Gefahr einer „Verschleppung ins Ausland“ angegeben. Margaret Stonborough wehrte sich offenbar heftig gegen diese „Sicherstellung“ und legte sofort dagegen Berufung ein. In seiner Stellungnahme an das Kulturamt der Gaustadt Wien vom 18. Februar 1939[2]  betonte Dr. Seiberl, Präsident der Zentralstelle für Denkmalschutz, dass es klare Hinweise für die Absicht einer Außerlandesbringung gäbe: Die Musikautographen wären bereits in einem Koffer verpackt gewesen, zudem hätte Frau Stonborough zugegeben, dass bereits einige Jahre zuvor wertvolle Musikhandschriften illegal ins Ausland verbracht wurden. Sicherstellungsort war zunächst die Bezirkshauptmannschaft Wien III, schon am 13. Dezember 1938 erfolgte aber die Zuweisung an die Sammlungen der Wiener Stadtbibliothek.

Dr. Paul Heigl, überzeugter Nationalsozialist und seit März 1938 Generaldirektor der Nationalbibliothek in Wien, war offenbar dank seiner ausgezeichneten politischen Kontakte bestens über diese „Sicherstellung“ informiert und zeigte in der Folge größtes Interesse, die Musiksammlung Stonborough für sein Haus zu erwerben. In einem Brief vom 5. Mai 1939[3] teilte Heigl dem Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten mit, dass Prof. Haas, Direktor der Musiksammlung der Nationalbibliothek, die gesamte Sammlung Stonborough gesichtet und ihren Wert auf 70.000 Reichsmark geschätzt habe. Gleichzeitig betonte Heigl, dass die Sammlung unbedingt „der Ostmark erhalten bleiben“ solle. Im selben Brief erwähnte Heigl ein Angebot von Margaret Stonborough, der Nationalbibliothek einen Teil der Sammlung zu schenken, wenn sie gleichzeitig die offizielle Erlaubnis bekäme, die III. Symphonie von Johannes Brahms ins Ausland zu bringen. Heigl schloss den Brief mit der Bitte: „ … Sorge zu tragen, dass in Hinkunft sichergestellte Musikhandschriften, Musikdrucke usf. nicht in der Stadtbibliothek sondern in der Nationalbibliothek … zur Verwahrung hinterlegt werden.“


Generaldirektor Paul Heigl

Ein weiterer Brief von Paul Heigl an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten vom 7. Dezember 1939[4] enthielt im Anhang eine Auflistung aller Objekte dieser Sammlung, aus der die Bedeutung und der Wert dieser Musikautographen-Sammlung Jerome Stonboroughs hervorgeht.

Verzeichnis

der bei Frau Margarete Stonborough sichergestellten Handschriften

 

I.     Eigentum der Frau Margaret Stonborough

1)      Erste Symphonie von Bruckner im Original

2)      Manuskript einer Symphonie von Richard Wagner

3)      Original des Briefes Beethovens an A. Bomard

4)      Frühdruck von Franz Schubert [„Reiter und Schäfer“]

5)      Lieder und Romanzen für Frauenchor von Brahms

6)      Grabgesang von Brahms, op. 13

7)      Ave Maria von Brahms, op. 12

8)      Drei geistliche Chöre von Brahms

9)      Variationen für Violoncello von C.M. Weber

 

II. Eigentum Dr. John Stonborough, Washington, Labour Department

1) Quintett für Pianoforte von Brahms

2) Zwei Giguen und eine Sarabande von Brahms

3) Praeludium und Fuge für Orgel von Brahms

4) Quintett, op. 24, von C.M. Weber in 2 Teilen

 

III.Eigentum des Thomas Stonborough, New York, 44 Wallstreet

1)      Symphonie F-Dur von Brahms

 

IV.  Eigentum von

a)       Paul Wittgenstein

1)      Skizzenbuch von Beethoven

2)      Beethoven, erster Satz Streichquartett op. 135

3)      Beethovenskizzen

 

b)      Helene Salzer

4)      Beethoven, Cellosonate, op. 69, 1. Satz

5)      Zwei Briefe Beethovens

6)      Brief von Leopold und Wolfgang A. Mozart 1772

 

c)       Hermine Wittgenstein

7)    Beethoven, Romanze F-Dur 

Heigl berichtet in diesem Schreiben über das folgende, von Margaret Stonboroughs Anwalt Dr. Indra eingebrachte Angebot:

  • Die in Punkt (I) und (II) aufgelisteten Autographen werden von der Nationalbibliothek um 50.000 Reichsmark erworben,
  • die III. Symphonie von Brahms (Punkt III) darf im Gegenzug gebührenfrei ausgeführt werden,
  • die Objekte aus IV b und IV c gehen an ihre Besitzer zurück, IV a geht als Leihgabe Paul Wittgensteins an die Nationalbibliothek.

Der entscheidende Punkt war – wie sich in der Folge zeigte – die zweite Bedingung: Heigl wies ausdrücklich darauf hin, dass es sich dabei um die einzige Symphonie Brahms‘ handle, deren Originalpartitur sich noch im Deutschen Reich befände und durch dieses Abkommen ein „ganz gefährliches Präjudiz“ geschaffen werden würde. Der Brief Heigls verwies auch auf ein anderes interessantes Detail: Eine weitere Bedingung von Margarete Stonborough für diesen Deal mit den NS-Behörden war, dass sie in keiner Weise für die „seinerzeitige illegale Ausserlandesbringung“ von sechs weiteren wertvollen Musikautographen belangt werden würde. Es handelte sich dabei – wie Heigl ausführte – um folgende sechs Stücke:

a) J.S. Bachs Kantate 10
b) Beethovens Klaviersonate op. 109
c) Haydns Sinfonia G. A. 90
d) Mozarts Violinkonzert Kv. 219
e) Mozarts Klavierkonzerte Kv. 238
f) und Kv. 467
 
Heigls Brief vom 7. Dezember 1939 ist aus einem weiteren Grund von großem Interesse. In einem kurzen Nebensatz wird darin auch auf Verhandlungen mit dem Rechtsanwalt Dr. Indra verwiesen, die gleichzeitig in Zürich begannen und in denen es um den Transfer einer riesigen Geldsumme (eineinhalb Millionen Schweizer Franken) aus dem Besitz der Familie Wittgenstein an die NS-Reichsbank ging. Mit diesem enormen Betrag gelang es tatsächlich, für die Geschwister Ludwigs eine „gemischte Solution“, d.h. eine Einstufung als Halbjuden, zu erkaufen, indem der Großvater Hermann Wittgenstein offiziell als Arier anerkannt wurde (vgl. Prokop 2003, 235 ff.; Monk 1992, 422/23). Für Hermine und Helene Wittgenstein, die sich weigerten Österreich zu verlassen, war dieser Handel von lebenswichtiger Bedeutung, sie überlebten die NS-Epoche in der Folge ohne weitere Schikanen.
 
Aus einem weiteren Briefentwurf Heigls aus dem Jahr 1940[5] geht schließlich hervor, dass der Deal bezüglich der Musikautographen-Sammlung Stonborough letztlich wegen des von Heigl bereits zuvor angeführten Bedenkens bezüglich der III. Brahms-Symphonie platzte. In diesem Schreiben ersuchte Heigl das Ministerium, die für den Ankauf der Sammlung Stonborough bereits überwiesenen 50.000 Reichsmark für andere Ankäufe verwenden zu dürfen, da ihm mitgeteilt wurde „dass mit der Genehmigung der Ausfuhr der letzten noch in Deutschland befindlichen Brahms-Sinfonie nicht zu rechnen ist“.
 
Nach Auskunft der Wienbibliothek[6] wurde die Musiksammlung Stonborough am 13. Dezember 1938 von der Stadtbibliothek zur Verwahrung übernommen. Im April 1942 wurde der Besitz Stonboroughs als „feindliches Vermögen“ eingezogen und die Objekte bis Kriegsende auf Schloss Sixtenstein gelagert. Am 19. Dezember 1945 erfolgte die Rückgabe der Sammlung an einen bevollmächtigten Vertreter der Familie Wittgenstein. (Ein zunächst verschollener Beethovenbrief wurde erst im Mai 1947 an John Stonborough zurückgegeben.)

Es ist damit Ursula Prokops Darstellung (Prokop 2003, S. 236) ausdrücklich zu korrigieren, wonach der von Margaret Stonborough vorgeschlagenen Handel mit den NS-Behörden tatsächlich zustande kam. Korrekt wiedergegeben ist der Fall Stonborough hingegen in Murray G. Halls und Christina Köstners Studie zur Österreichischen Nationalbibliothek in der NS-Zeit (Hall/Köstner 2006; S. 308f.).

Literatur:
Monk, Ray (1992): Wittgenstein: Das Handwerk des Genies. Stuttgart: Klett-Cotta

Murry G. Hall/Christina Köstner (2006): „ … allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …“ Eine österreichische Institution in der NS-Zeit. Wien: Böhlau

Prokop, Ursula (2003): Margaret Stonborough-Wittgenstein. Bauherrin Intellektuelle Mäzenin. Wien: Böhlau

Zum Autor: Dr. Alfred Schmidt ist wissenschaftlicher Assistent in der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek.

[1] Einen Eindruck von der Bedeutung dieser Kunstsammlung gibt der Katalog der 132. Ausstellung der Wiener Secession 1934, die einer Privatsammlung französischer Meister gewidmet war. Obwohl der Namen des Besitzers der Sammlung  im Katalog zur Ausstellung nicht genannt wird, steht fest, dass es sich um die Gemäldesammlung der Familie Jerome und Margaret Stonborough handelte. Der Katalog listet u.a. Werke von P. Bonnard, G. Braque, M. Chagall,  E. Delacroix,  J. D. Ingres, P. Gauguin, E. Manet, H. Matisse, J.F. Millet, C. Monet, P. Picasso, C. Pissaro, A. Renoir , A. Rodin, P. Signac, H. Toulouse-Lautrec, M. Utrillo u.a. auf. (Vgl. dazu den Beitrag von Elisabeth Kamenicek in: Bernhard Fetz (Hrsg.): Berg, Wittgenstein, Zuckerkandl – Zentralfiguren der Wiener Moderne. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2018, S. 135 f.)

[2] Zentralstelle für Denkmalschutz, Zl. 739/Dsch ex 1939

[3] ÖNB Hausarchiv, Verwaltungsakten der Generaldirektion, Sonderbestand Mappe Wittgenstein

[4] Es handelt sich dabei um jenen Brief, der in der Ausstellung im Literaturmuseum zu sehen ist: ÖNB Hausarchiv, Verwaltungsakten der Generaldirektion, Sonderbestand Mappe Wittgenstein, Zl. 4694/5107/1939

[5] ÖNB Hausarchiv, Verwaltungsakten der Generaldirektion, Sonderbestand Mappe Wittgenstein, Zl. 5533/5534

[6] E-Mail Dr. Christian Mertens , Wienbibliothek, vom 10.5.2004 

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