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Einen komprimierten Einblick in diese Entwicklungen und die daraus resultierende aktuelle Situation bietet der vorliegende Band, dessen zehn Einzelbeiträge auf eine Tagung der Evangelischen Akademie Loccum im Mai 1999 zurückgehen. Trotz seines knappen, leicht rezipierbaren Umfangs und des Umstands, daß hauptsächlich bundesdeutsche Verhältnisse Gegenstand der Untersuchungen sind, wird deutlich, inwiefern sich heute Literaturarchive und -museen, die hier als funktionale Einheit betrachtet werden, an äußerst produktiven Schnittstellen befinden, die sich aus philologischen, kulturphilosophischen und -politischen, pädagogischen, kommunikations- und informationstheoretischen Fragestellungen ergeben. So läßt / ließe sich, über die gegebenen Befunde hinaus, manches ohne weiteres auch auf Österreich übertragen bzw. für die dort geltenden Rahmenbedingungen fruchtbar machen, wo nach einer Reihe von Neugründungen und Kooperationsanstrengungen eine relativ lebendige Szene einschlägiger Einrichtungen (unterschiedlichster Trägerschaften) existiert.
Konsens besteht - bei allen Unterschieden zentralistisch-nationaler versus föderalistisch-regionaler Ausrichtung - über das Aufgabenprofil eines modernen Literaturarchivbetriebs: Auf der Basis einer historisch gewachsene Zusammenhänge bedenkenden Tätigkeit des Sammelns, Bewahrens und Erschließens von literarischen und literaturdokumentarischen Materialien aller Art sollte es sich um interdisziplinäre Forschungsanstalten handeln, die einerseits für eine möglichst unbürokratische Zugänglichkeit und Benutzbarkeit der Bestände durch Wissenschaftler und sonstige Interessierte und andererseits für eine aktive Publikationspolitik (Editionen) zu sorgen haben, wie auch generell für eine verständliche Vermittlung der eigenen Leistungen nach außen, um den Wert literarischer Zeugnisse für das geistige und kulturelle Profil eines Landes oder einer Region bewußt zu halten bzw. erst zu machen.
Ergänzt und im Detail zurechtgerückt wird dieses monumentale Bild durch mehrere aufschlußreiche Darstellungen vergleichsweise kleinerer Einrichtungen, wie etwa des Heinrich-Heine-Instituts in Düsseldorf (Joseph A. Kruse), des Heinrich-Böll-Archivs in Köln (Viktor Böll) oder verschiedener Literaturarchive in Hannover (Wolfgang Dittrich). Insbesondere Kruse gelingt es, in launig und mitunter provokant formulierter Argumentationsfolge auf vorhandene Probleme hinzuweisen:
Denn es wimmelt im Verlauf unserer alltäglichen Arbeit nur so vom unüberbrückbaren Gegensatz großer Worte und zäher Anstrengungen. [...] Immer streift uns bei solchen Gelegenheiten des Nachdenkens über den historischen Part jeglicher Kulturarbeit der Atem der Geschichte. Uns ist allen bewußt, was Franz Kafka in der ›Kaiserlichen Botschaft‹ mit dem historischen Bodensatz gemeint haben muß. Zäh ist nicht nur das kulturelle historische Erbe; zäher sind die ausweichenden Antworten der Verantwortlichen, wenn es gilt, sich adäquat darum zu kümmern, was nun einmal meist öffentliches Geld kostet; zäh bleiben, wie gesagt, unsere dennoch einmal auf uns genommenen Bemühungen. [...] Schließlich reden wir vom kollektiven Gedächtnis und den verschiedensten Formen der Erinnerung, ohne die jegliches gegenwärtige Leben stumpf und dumpf bleibt. Wir behaupten, daß wir ausschließlich durch und in der Vielfalt von Sprache und sonstigen kulturellen Äußerungen sinnvoll leben. Also werden wir mit Recht die passenden Bedingungen von deren Erhaltung und Tradierung wie Dokumentierung, deren Erforschung und mögliche Visualisierung bedenken und verlangen dürfen. (S. 50f.)
Im Zentrum des Interesses steht freilich immer die handschriftliche Quelle, also vor allem das Manuskript als solches. Umgeben von der Aura des unmittelbaren künstlerischen Schreibaktes, wird ihr die Eigenschaft zugesprochen, etwas vom allgemeinen Verlust primärer Erfahrungen, der moderne Lebensweisen prägt, kompensieren zu können und so die Vorstellung des Authentischen auch ins 21. Jahrhundert zu retten. Hier kommt den Literaturarchiven eine grundlegende Veränderung des Literaturbegriffs zugute, der nicht mehr auf die vollendete, geschlossene Form abzielt, sondern ein offenes Gewebe von gleichwertigen, einander überlagernden Schreibprozessen und Text
Die Vermarktung des kulturellen Erbes hat im virtuellen Umfeld bereits begonnen. Mit allen Informationsangeboten, die über das Internet von unseren Institutionen ausgehen, haben wir die Rolle dessen aufgegeben, der gelassen auf einen Nutzer oder Besucher wartet, da dieser zwangsläufig sowieso den Weg in die Institution finden muß; wir sind zum Händler mit der Ware ›Kultur‹ geworden, der sich in einem konkurrierenden Umfeld behaupten muß. Unser Vorteil ist die Tatsache, daß die fraglichen Dokumente und Gegenstände als Originale nur in unseren Institutionen zu sehen und zu benutzen sind. (S. 112)
Daher gelte es, die Neugier und das Interesse an musealen Schätzen zu fördern, um zu verhindern, »daß vielleicht schon in 50 Jahren die Fähigkeit, handschriftliche Dokumente zu lesen und zu verstehen völlig verlorengegangen sein wird.« (S. 115)
Das vorliegende Büchlein hat seinen Teil dazu sicherlich geleistet, so schmucklos-protokollarisch es auf den ersten Blick auch erscheint. Doch hat man sich auf die Lektüre einmal eingelassen, ist man mit einer Fülle anregender Informationen literatur- und wissenschaftsgeschichtlicher, technischer und organisatorischer, praktischer und theoretischer Art konfrontiert, die die Referentinnen und Referenten als jene vielseitig erfahrenen und eloquenten Fachleute ausweisen, die es in der täglichen Literaturarchivarbeit eben braucht. Am liebsten möchte man alles in einem Stück lesen, so spannend sind manche Ausführungen. Wie oft kann man das von einer Fachpublikation schon sagen?
Arno Rußegger