„Der jüngere Bruder“. Hermann Jandls Nachlass am Literaturarchiv

Forschung

01.03.2022
Literatur
Zwei Männer mit Brille stehen auf einem Waldparkplatz und studieren eine Wanderkarte

Hermann Jandls (1932–2017) literarischer Nachlass am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erlaubt nicht nur neue Einblicke in eine spannende Familiengeschichte, sondern wirft auch Licht auf einen heute zu wenig wahrgenommenen österreichischen Autor. 

Autorin: Arnhilt Inguglia-Höfle

Hermann Jandl hätte gegen den Titel dieses Beitrags sofort Einspruch erhoben – verständlicher Weise, stand er doch zeitlebens im Schatten seines bekannteren großen Bruders Ernst Jandl (1925–2000). Sehr klar beantwortete er diesbezüglich im Jahr 1979 einen Fragebogen des Niederösterreichischen Pressehauses, das sein Hörspiel „Ein Mensch, oder: Das Leben ist eines der schwersten“ herausgab:
 

Worauf sollen wir in der Werbung besonders achten, was sollen wir nicht erwähnen?
Beachtung sollte finden, daß ich auf verschiedenen literarischen Gebieten (Lyrik, Prosa, Drama, Hörspiel) tätig bin.
Ein Zusammenhang mit meinem Bruder Ernst Jandl sollte unbedingt vermieden werden.
(H. Jandl 1979)
 

Am 1. März 2022 wäre Hermann Jandl 90 Jahre alt geworden. Nach seinem Tod im Jahr 2017 gelangte sein » Nachlass ans Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (LIT). Die Materialien geben Einblicke in eine spannende Familiengeschichte und werfen Licht auf einen bis heute zu wenig wahrgenommenen österreichischen Schriftsteller.
 

Anfänge
 

ich wurde am 1. 3. 1932
um 16 uhr 45 geboren
wog 3450 gramm und
maß 52 zentimeter

am 19. 4. betrachtete
ich zum erstenmal
meine handerln und
lachte vor freude

am 26. 6. bekam ich
zum erstenmal die
flasche gefüllt mit
milch und reiswasser

an diesem tag wog ich
bereits 6040 gramm
und es dauerte nicht
mehr lange bis zu

meinem ersten gedicht

(H. Jandl 1993)

 

Hermann Jandl wurde am 1. März 1932 in Wien als drittes Kind von Luise und Viktor Jandl geboren. Warum er schreibe, beantwortete Hermann Jandl gerne mit „Wenn ich Maler wäre, würde ich malen“ (H. Jandl 1978). Er trat damit mit einer großen Selbstverständlichkeit, die auch im oben zitierten Gedicht „anfänge“ zu Tage kommt, in die Fußstapfen seiner schreibenden Mutter Luise und seines ältesten Bruders Ernst. Ab Anfang der 1950er Jahre veröffentlichte er in Anthologien und einschlägigen Literaturzeitschriften, wie „Literatur und Kritik“, „manuskripte“, „neue wege“ und „protokolle“. Dass er aber daneben einen Brotberuf annehmen musste, war ihm von Anfang an bewusst.

Abb.: Hermann Jandl (2. v. l.) mit seiner Mutter Luise und den älteren Brüdern Ernst und Robert im Juli 1937 (LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/L14/24)

Zwischen Schreiben und Brotberuf

Hermann Jandl schwankte zunächst zwischen einer Anstellung bei den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) und dem Lehrberuf. Bereits in Vorarlberg, wo er 1946 fünf Monate bei einer Pflegefamilie im Rahmen einer Caritas-Aktion verbrachte, spielte er mit dem Gedanken, anschließend die Lehrerbildungsanstalt in Feldkirch zu besuchen. Wie aus der Korrespondenz im Nachlass hervorgeht, musste die Vorarlberger Pflegefamilie leider die Bitte von Jandls Vater Viktor, den Jugendlichen weiter zu beherbergen, ablehnen (Briefwechsel Jandl / Walser). Die Versorgungssituation war auch dort zu schwierig geworden.

Aufschluss über den weiteren Bildungsweg geben Briefe zwischen Hermann und Ernst Jandl aus den frühen 1950er-Jahren (Briefwechsel E. Jandl / H. Jandl). Hermann Jandl bat seinen Bruder um Rat und gemeinsam wogen sie die Vor- und Nachteile der Berufe ab. Trotz mehrerer Ansuchen wurde Hermann Jandl nicht in den Dienst der Bundesbahnen gestellt. Nach dem Besuch der Lehrerbildungsanstalt an der Universität Wien brach er das zwischenzeitlich begonnene Studium der Zeitungswissenschaften und Kunstgeschichte ab, als er Ende 1952 eine Stelle als Aushilfslehrer erhielt. Fortan übte er den Lehrberuf – so wie auch Mutter und Bruder – als Pflichtschullehrer in Niederösterreich und Wien aus; zuletzt war er Schuldirektor.

Ein aufstrebendes Talent

Im Gegensatz zu Ernst Jandls frühen Werken fanden Hermann Jandls Gedichte in den 1950er-Jahren zunächst mehr Anerkennung und Verbreitung (vgl. Siblewski 2000: 35). 1966 verfasste der einflussreiche Kulturjournalist Paul Kruntorad (1935–2006) für den Residenz Verlag ein Gutachten über drei Erzählungen Jandls. Die Einreichung wurde zwar abgelehnt, das Potenzial jedoch erkannt: „[…] ein Talent, das man unbedingt halten sollte.“ (Kruntorad 1966)

Mit dem Theatertext „Geständnisse“ (1969) und der Lyriksammlung „Leute Leute“ (1970) legte Jandl kurze Zeit später erste Buchveröffentlichungen bei den namhaften Verlagen Luchterhand und S. Fischer vor. Es folgten mehrere Gedichtbände (u. a. „Kernwissen“, 1985; „Ein Goldgräber“, 1997; „Bitterer Tee“, 2012) sowie Erzählbände (u. a. „Vom frommen Ende“, 1971; „Storno“, 1983; „Die Tür ist offen“, 1997; „Schattenspiel“, 2006) und Hörspiele (u.a. „Ein Mensch, oder: Das Leben ist eines der schwersten“, 1979).

In einem Aufsatz, der in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift „Modern Austrian Literature“ erschien, wurde Hermann Jandl 1974 neben H. C. Artmann, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl und Thomas Bernhard als „namhafter Vertreter“ der österreichischen Nachkriegsliteratur besprochen (Pabisch 1974: 70). Seine „Meisterschaft im Lyrischen und in der Prosa“ fand großes Lob. 1976 führte er mit seinen Liebesgedichten neben Jeannie Ebner eine Umfrage des Literaturkreises Podium als beliebtester Dichter bei der ländlichen Jugend an (Wochenpresse 1976).

Hermann Jandl war Mitglied des Österreichischen P.E.N.-Clubs (von 1974 bis 1994 Generalsekretär des Niederösterreichischen P.E.N.-Clubs und Herausgeber zweier Anthologien), der Österreichischen Dramatiker Vereinigung, des Österreichischen Schriftstellerverbandes, des Literaturkreises Podium und der IG Autorinnen und Autoren.

Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Theodor-Körner-Preis (1974), dem Österreichischen Staatsstipendium für Literatur (1974), dem Würdigungspreis für Literatur des Bundesministeriums für Unterricht und Kultur (1988) und dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse (2000). Sie wurden im österreichischen und deutschen Rundfunk ausgestrahlt, im Theater inszeniert und vertont. Auf den großen Durchbruch wartete Hermann Jandl jedoch vergeblich.

Zwischen Tradition und Avantgarde

Zahlreiche Materialien in seinem Nachlass zeigen, dass Hermann Jandls Frühwerk der Konkreten Poesie noch näher stand, wie etwa das Gedicht „verdichtung“ veranschaulicht. Später wandte er sich jedoch, im Gegensatz zu seinem Bruder, von radikalen sprachlichen Experimenten ab und wählte konservativere Gedicht- und Erzählformen.

Abb.: Hermann Jandls Gedichts „verdichtung“, 8.3.1969 (LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/W6)

Im Fragebogen des Niederösterreichischen Pressehauses beschrieb er das Wesentliche seines Werkes wie folgt:

In meinen Arbeiten geht es fast immer um den Menschen in alltäglichen Extremsituationen – das sind Situationen, die wegen ihrer Alltäglichkeit nur von wenigen als Extremsituationen erkannt werden, an denen aber täglich zahllose Menschen zerbrechen. Ich versuche, das ungehörte, ungesehene und unausgesprochene Unglück aufzuzeigen. (H. Jandl 1979)

Hermann Jandls Texte sind stilistisch weder als traditionalistisch noch als radikal avantgardistisch einzuordnen. Mit dem Ziel, die Banalitäten des Menschseins aufzudecken, setzt er bewusst einfach wirkende Sprache, klare Formen und ein Minimum an Worten ein. Wiederholung, Variation und Zuspitzung dienen ihm sowohl in Lyrik als auch in seiner Prosa oft als Stilmittel, um mit Sprachwitz und sanftem Humor auf persönliche und alltägliche wie auch historische und gesellschaftsrelevante Themen einzugehen.

Im Mittelpunkt der Erzählung „Storno“ (1983) steht beispielsweise der hypochondrische Büroangestellte Thomas. Der Alltag als Herausforderung, die Einsamkeit, Zwänge und Unsicherheiten im Umgang mit den Mitmenschen, vor allem mit Frauen, und ein allgegenwärtiger Ekel vor Körperfunktionen werden minutiös beschrieben. Die Erzählung berichtet von einem Urlaub in den Bergen, der, wie wir zum Schluss erfahren, gar nicht stattgefunden hat. Thomas „storniert“ seine Reise und die vermeintliche Handlung des Textes nachträglich: „er wußte jetzt, wie seine reise verlaufen würde. er wußte es bis in die letzten einzelheiten. wozu also sollte er da noch wegfahren? wozu sollte er sich das alles antun? wozu sollte er sich selber so viel leid zufügen?“ (H. Jandl 1983: 90)

Aufarbeitung der Vergangenheit

Mit Gedichten wie „der befehl“ im Band „Leute Leute“ (1970) und „kosten“, „der apparat“, „friedensappelle“ oder „was sich seit kain und abel geändert hat“ im Band „Kernwissen“ (1985) leistete Hermann Jandl auch einen wichtigen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen Literatur der Nachkriegszeit.

Abb.: Hermann Jandls Gedichts „friedensappelle“, 27.4.1998 (LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/B64)

Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt der 1968 von Friedrich Polakovics im Theater am Börseplatz in Wien aufgeführte erste Akt der „Geständnisse“ (vgl. Kauer 1968; Klaus 1968, Lang 1968; Wiener Zeitung 1968). Im 50-minütigen, monologischen Verhör versucht ein SS-Offizier von einem unsichtbar und stumm bleibenden Häftling mit Drohen, Zureden, Bitten und Beschwören ein Geständnis zu erpressen.

Wie wir aus einem Blatt im Nachlass erfahren, entstand das Werk nach einem Besuch im Konzentrationslager Mauthausen 1965, der ihn wochenlang beschäftigte: „Der Weg zum Lager war nicht leicht zu finden; die Ausschilderung war sehr dürftig. Auf dem Parkplatz vor dem äußeren Lagertor stand kein Auto mit österreichischem Kennzeichen.“ (H. Jandl 1965) Dem Text stellte Jandl folgende Zeilen voran: „Ein Verhör wie dieses / hat es nie gegeben, / die Wirklichkeit, auf der es fußt, / nur zu sehr.“ (H. Jandl 1969: o. S.)

Der nicht zur Aufführung gelangte zweite Akt reflektiert in einer Szene die Entstehungsbedingungen des ersten Aktes. Im Gespräch wirft der erfolgreiche Dentist Walter seinem Bruder, dem Lehrer und Schriftsteller Peter, „Nestbeschmutzung“ vor (H. Jandl 1969: 11):

Dekadent. Abwegig. Vertrödelt seine Zeit mit der Bewältigung einer Vergangenheit, die gar nicht die seine ist!
Hör zu, Peter: Bau endlich auf. Schreib was Positives! Vergiß dieses Mauthausen, vergiß diese ganze Zeit – nimm’s als das, was es war: ein Betriebsunfall! Kommt überall mal vor.
(H. Jandl 1969: 14)

Bruderliebe – Bruderzwist

Brüder

[…]
Viel wichtiger scheint es mir
dir zu sagen, […]
daß wir beide,
du und ich,
Brüder sind
und zusammenhalten sollten.
(H. Jandl 1962)

In den Nachlässen der beiden Schriftsteller im Literaturarchiv sind Materialien vorhanden, die Licht auf die komplizierte Beziehung der schreibenden Brüder werfen, wie das Gedicht „Brüder“ von 1962. Fotografien in den Beständen zeigen die beiden auf gemeinsamen Ausflügen und Urlauben in geselligen Runden in Rohrmoos, wo Ernst Jandl und seine Lebensgefährtin Friederike Mayröcker gerne ihren Sommer verbrachten.

Abb.: Mit Freunden in Rohrmoos, 1980er-Jahre (LIT, Nachlass Ernst Jandl, Sign.: 139/L390)

Beide Autoren setzten sich zeitlebens intensiv mit ihrer Familie auseinander. Mehrere Texte aus unterschiedlichen Jahrzehnten handeln von der Kindheit und insbesondere der Beziehung zur früh verstorbenen Mutter Luise Jandl, die sich in ihren letzten Lebensjahren immer stärker einem fundamentalistischen Katholizismus zuwandte und ihre Kinder bei Ungehorsam vom Vater körperlich strafen ließ (vgl. Inguglia-Höfle 2021).

Generell empfand Hermann Jandl, wie er 2008 in einem Interview erläuterte, die sieben Jahre Altersunterschied zu Ernst Jandl stets als gravierend (vgl. H. Jandl 2008). Allein die unterschiedlichen Kriegserfahrungen – Ernst Jandl als Soldat und Kriegsgefangener, Hermann Jandl als Kind in Wien und später auf Landerholung in Vorarlberg – hinterließen tiefe Spuren.

Die teilweise sehr pragmatisch, teilweise literarisch gestalteten Briefe in den Nachlässen geben Einsicht in unterschiedliche Phasen ihrer Beziehung. In den 1950er Jahren half der jüngere Bruder oft noch dem älteren bei der Schreibarbeit. So schrieb Hermann an Ernst Jandl am 10. Oktober 1952: „Ich habe Dir eine große Anzahl von Gedichten abgeschrieben, was eine recht saure Arbeit war. […] Ich hoffe, daß Du mit meinen Bemühungen zufrieden sein wirst.“ (Briefwechsel E. Jandl / H. Jandl) Umgekehrt zeugen die Korrespondenzen von der Unterstützung, die Ernst Jandl dem jüngeren Bruder, sei es privat im Fall von Krankheit oder auch in Form von Ratschlägen, Aufmunterungen und Ermutigungen, die das Schreiben und Publikationen betreffen, zuteilwerden ließ.

Widmungen in Buchgeschenken zeugen von der gegenseitigen Wertschätzung und Anerkennung:

Für Hermann, im Sinne unserer gemeinsamen „Sitzkunst“
sehr herzlich
Ernst
1.1.1982
(E. Jandl 1982)

Abb.: Die Brüder Jandl in den 1980er-Jahren (LIT, Nachlass Ernst Jandl, Sign.: 139/L392)

Dennoch ergibt sich aus den Materialien auch ein zwiespältiges Bild. Angst vor Urgenzen des Bruders, der Veröffentlichungen und Aufführungen seiner Werke verhindern wolle, äußerte Hermann Jandl 1969 in einem Brief an Mario Hindermann vom Luchterhand Verlag: „Ungeschickt wie ich bisher war, habe ich Ernst Jandl von meinen literarischen Unternehmungen erzählt.“ (Briefwechsel H. Jandl / Luchterhand) In einer Postkarte vom 11.2.1973 berichtet Hermann Jandl seinem Bruder von einer Lesung in Graz: „Über unser Verhältnis befragt, bestellte ich allen Deine Grüße und bezeichnete Dich als den Größten der konkreten Poesie.“ (Briefwechsel E. Jandl / H. Jandl) Dass es Gerüchte gebe, die Brüder seien „verfeindet“, hatte Ernst Jandl bereits in einem Brief an Hermann Jandl vom 3.11.1970 zu bedenken gegeben. (Briefwechsel E. Jandl / H. Jandl)

„Nicht Ernst sein“

Für die Literaturkritik schien es unterdes unvermeidlich, die beiden – meist zu Ungunsten des um sieben Jahre Jüngeren – miteinander zu vergleichen. In einer Rezension des Bandes „Leute Leute“ von 1970 hieß es etwa:

Man blättert das Büchlein mit dem Titel „Leute Leute“ durch und denkt: Mein Gott, der Jandl hat doch schon besser geschrieben. Bis man bei einem zweiten Blick auf den Umschlag registriert, daß es sich nicht um Ernst Jandl, sondern um seinen jüngeren Bruder Hermann handelt. Die Verwandtschaft ist nicht zu leugnen. (Rothschild 1970)

Es bliebe abzuwarten, so der Rezensent, ob „Jandl junior“ seine eigene Handschrift finden würde. Unter dem Titel „Nicht Ernst sein“ kommentierte das Wiener Wochenblatt Hermann Jandls Schaffen im selben Jahr: „Nicht Ernst sein, wäre für ihn wichtig. Aber er ist es leiderzumeist.“ (Wiener Wochenblatt 1970) Unter dem Titel „Der jüngere Bruder“ wurde in den Salzburger Nachrichten 1983 eine Lesung Hermann Jandls besprochen (Salzburger Nachrichten 1983).

Abb.: Den Zeitungsausschnitt „Hermann wurde Ernst“ (Arbeiter-Zeitung 1976) schickte Friederike Mayröcker an Hermann Jandl („Bussi f“) (LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/S11)

Auch Verwechslungen kamen vor. So verirrte sich bisweilen Fanpost für Hermann Jandl zu seinem berühmteren Bruder. „Hab keinen Groll gegen mich, oder wenigstens nicht zu lange.“, antwortete Ernst Jandl, als er den Brief eines begeisterten Lesers im Februar 1984 an Hermann Jandl weiterleitete. (Briefwechsel E. Jandl / H. Jandl)

1976 musste sich Hermann Jandl in einem offenen Brief an den Kindler-Verlag wenden, nachdem sein Gedicht „der befehl“ im Eintrag zu Ernst Jandl ausführlich und in höchsten Tönen als eine der „aufregendsten Montagen“ seines Bruders besprochen worden war (Klinger 1976: 443). Unter der Überschrift „Hermann wurde Ernst“ berichtete die „Arbeiter-Zeitung“ davon (Arbeiter-Zeitung 1976); die „Wochenpresse“ empörte sich über die „blanke Schlamperei“, die schon nichts mehr mit Cliquenwirtschaft zu tun habe (piz 1976). Auch im „Kurier“ gab es dazu eine kurze Meldung mit dem Titel „Falscher Befehl“ (Kahl 1976).

Getrennte Wege

der bruder

er lachte
laß uns trinken
oder schmeckt dir
der wein nicht
iß greif zu
als bruder bist du
mir lieb und wert
als autoren aber
müssen wir
getrennte wege
gehen
komm trinken wir
ihm gefielen meine
arbeiten
mir seine

dann wiederum
saß er da
mit geschlossenen
augen
schweigend und
schwer atmend

(H. Jandl 2001)
 

Hermann Jandl verarbeitete die außergewöhnliche Beziehung zu seinem Bruder in mehreren Texten literarisch. Das hier zitierte Gedicht „der bruder“ entstand 2001, kurz nach dem Tod Ernst Jandls. Während das weiter oben angeführte Gedicht „Brüder“ von 1962 noch insbesondere den Zusammenhalt poetisch einforderte, spiegeln sich hier die vielen verschiedenen Facetten ihres Verhältnisses über die Jahrzehnte wider: Liebe, Vertrauen, Wertschätzung und Zusammenhalt, aber auch Konflikte, Misstrauen und Konkurrenzkampf.

Ernst Jandl fasste die komplizierte Situation im Literaturbetrieb in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Hermann Schürrer (1928-1986) vom 25.1.1975 ähnlich zusammen und kam ebenfalls zu dem Schluss, dass die Brüder getrennte Wege gehen müssen:

Du hast mir vor einiger Zeit gesagt, daß Du meinen Bruder Hermann Jandl viel mehr schätzt als mich; etwas in dieser Art zu hören, freut mich immer – denn es zeigt mir, daß wir beide, Hermann Jandl und ich, jeder seine eigene Sache machen, die von der des anderen getrennt ist; daß jeder seine eigenen Freunde und sein eigenes Publikum hat – gerade das ist, wie ich meine, eine Voraussetzung, daß zwei Brüder, in derselben Sparte arbeitend, sich vertragen. (Briefwechsel E. Jandl / H. Jandl)

Dass Hermann Jandl dennoch bis heute nur im Schatten seines Bruders wahrgenommen wurde, scheint jedenfalls ein großes Versäumnis der Literaturgeschichtsschreibung zu sein. Die umfangreichen Materialien im Literaturarchiv lassen auf eine in Zukunft vielschichtigere Auseinandersetzung mit dem oft unterschätzten „jüngeren Bruder“ hoffen.

Über die Autorin: Dr. Arnhilt Inguglia-Höfle ist Stellvertretende Leiterin des Literaturarchivs und des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek.

 

Literaturverzeichnis

Arbeiter-Zeitung 1976 = [Anonym] (1976): Hermann wurde Ernst, in: Arbeiter-Zeitung, 3.12.1976, S. 15.

Briefwechsel E. Jandl / H. Jandl = Briefwechsel zwischen Ernst Jandl und Hermann Jandl. LIT, Nachlass Ernst Jandl, Sign.: 139/2.3.1.6.

Briefwechsel H. Jandl / Luchterhand = Briefwechsel zwischen Hermann Jandl und dem Luchterhand Verlag. LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/B60.

Briefwechsel Jandl / Walser = Briefwechsel zwischen Familie Jandl und Familie Walser. LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/B227.

E. Jandl 1982 = Ernst Jandl (1982): Handschriftliche Widmung für Hermann Jandl, in: Ernst Jandl (1981): Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen, München: Luchterhand. LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/NL-Bibliothek.

H. Jandl 1962 = Hermann Jandl (1962): Brüder, in: Neue Wege, Nr. 172.

H. Jandl 1965 = Hermann Jandl: „1965 besuchte ich…“ [Incip.], Typoskript. LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/W27/3.

H. Jandl 1969 = Hermann Jandl (1969): Geständnisse. Zwei Akte, München: Luchterhand.

H. Jandl 1978 = Hermann Jandl (1978): Wie ich zum Schreiben gekommen bin, in: Morgen, Nr. 4, S. 145.

H. Jandl 1979 = Fragebogen des Niederösterreichischen Pressehauses, Beilage zum Brief an Hermann Jandl vom 21.2.1979. LIT, Nachlass Hermann Jandl, Sign.: 454/B75.

H. Jandl 1985 = Hermann Jandl (1985): Kernwissen. Gedichte, Baden bei Wien: Grasl.

H. Jandl 1993 = Hermann Jandl (1993): anfänge, in: Schöne Welt. Gedichte, Baden bei Wien: G. Grasl, S. 5.

H. Jandl 2001 = Hermann Jandl (2001): der bruder, in: Literatur aus Österreich, Nr. 262/63.

H. Jandl 2008 = Autorenporträt Hermann Jandl. Eine Dokumentation des Niederösterreichischen P.E.N. Clubs. DVD, 2008.

Inguglia-Höfle 2021 = Arnhilt Inguglia-Höfle (2021): Zerbrechliche Familienidylle. Die Glasplatten-Negative im Nachlass Hermann Jandls, in: Volker Kaukoreit, Tanja Gausterer, Arnhilt Inguglia-Höfle und Marcel Atze (Hrsg.), Pässe, Reisekoffer und andere „Asservate“. Archivalische Erinnerungen ans Leben, Wien: Praesens, S. 204-212.

Kahl 1976 = Kurt Kahl (1976): Falscher Befehl, in: Kurier, 10.12.1976, S. 31.

Kauer 1968 = Edmund Th. Kauer (1968): Demonstration auf der Szene. Die Komödianten bringen „Werkstattarbeit II“, in: Volksstimme, 19.4.1968.

Klaus 1968 = Rudolf U. Klaus (1968): Aufschlußreiche Einblicke. Am Börseplatz: „Werkstattarbeit“, Irina David, Polakovics, in: Kurier, 18.4.1968.

Klinger 1976 = Kurt Klinger (1976): Der lyrische Alleinunterhalter: Ernst Jandl, in: Hilde Spiel (Hrsg.), Die zeitgenössische Literatur Österreichs, München: Kindler (= Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen, Tendenzen seit 1945, Bd. 3), S. 441–447.

Kruntorad 1966 = Paul Kruntorad (1966): Gutachten zu Hermann Jandls „Am Anfang war die Tat. Drei Erzählungen“, 28.8.1966. LIT, Nachlass Paul Kruntorad, Sign.: 536/21.

Lang 1968 = Rolf Lang (1968): Keine Meister – nur Bastler. „Werkstattarbeit II“ bei den „Komödianten“, in: Express, 18.4.1968, S. 7.

Pabisch 1974 = Peter Pabisch (1974): Distanzierung und Engagement in deutscher Nachkriegsliteratur aus Österreich, in: Modern Austrian Literature, Nr. 7, H. 1/2, S. 69–78.

piz 1976 = piz (1976): Kleiner Irrtum, in: Wochenpresse, 15.12.1976, S. 7.

Rothschild 1970 = Thomas Rothschild (1970): Kleine Fische für kritische Kulinarier. Eine neue Serie im S. Fischer Verlag, in: Stuttgarter Zeitung, 28.2.1970.

Salzburger Nachrichten 1983 = e. h. (1983): Der jüngere Bruder. Hermann Jandl zu Gast in der Gesellschaft für Literatur, in: Salzburger Nachrichten, 16.4.1983, S. 5.

Siblewski 2000 = Klaus Siblewski (2000): a komma punkt ernst jandl. Ein Leben in Texten und Bildern, München: Luchterhand.

Wiener Wochenblatt 1970 = [Anonym] (1970): Nicht Ernst sein, in: Wiener Wochenblatt, 23.5.1970.

Wiener Zeitung 1968 = F. K. (1968): KZ-Grauen bei den „Komödianten“, in: Wiener Zeitung, 19.4.1968.

Wochenpresse 1976 = [Anonym] (1976): Schüler lieben anders. Ein Test ergab, daß die Jugend poetische Gedichte vorzieht. Hermann Jandl und Jeannie Ebner führen, in: Wochenpresse, 10.3.1976.

 

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